Das entschleunigte Bild

—Anne Kohlick

Der Berliner Maler Michael Kunze wird mit dem Hans-Platschek-Preis geehrt

      Bei diesem Tauziehen kann es keine Gewinner geben: Mit allen Kräften zerren die Figuren auf Michael Kunzes Gemälde „Nachmittag“ an zwei Seilen, die sich in der Mitte des Bildes kreuzen. Doch alle vier Gruppen sind gleich stark, ein Ende der Pattsituation ist nicht in Sicht. Es sei denn, das kleine Lagerfeuer, das unter den Tauen knistert, erfasst die Seile und brennt sie durch. Dann dürften die 24 Figuren, die seltsamerweise beim Tauziehen Blumentöpfe tragen, in alle Ecken des über drei mal sechs Meter großen Gemäldes purzeln. Allerdings könnte ihr Sturz das Wirrwarr aus Vögeln, Stühlen, Sonnenschirmen, Standarten, Leitern, Musikinstrumenten und unzähligen weiteren Gegenständen auf Kunzes Bild wohl kaum noch chaotischer machen.

      Seit zwei Jahren arbeitet der 1961 geborene Künstler in seinem Berliner Atelier an dem Monumentalgemälde „Nachmittag“. Dass es genau 24 Figuren hat, ist kein Zufall: Jede steht für eine Stunde des Tages. Es geht um das Verrinnen der Zeit, die Sinnlosigkeit, den Moment festhalten zu wollen – etwa in Form eines fix geknipsten Smartphone-Fotos, das im Internet hochgeladen nur scheinbar das Erlebte verewigt.

      Michael Kunze setzt der Bilderflut im Netz seine entschleunigte Malerei entgegen: Werke, in denen jahrelange Arbeit steckt, altmeisterlich gemalt, voller Anspielungen auf Kunst-, Literatur- und Philosophiegeschichte, so komplex und labyrinthhaft, dass sie den Betrachter mit ihrer Detailfülle auf den ersten Blick erschlagen. „Obwohl meine Bilder den Eindruck einer fast hermetischen Verwobenheit erwecken, in der alles wie x-mal angehalten und durchdacht aussieht, komme ich eher auf chaotische Weise zu einem Resultat“, erklärt der Künstler. Im Bildaufbau ziehe eine erste Verschachtelung der Motive, ein erster Knoten weitere nach sich – „bis nach und nach ein immer engeres Netz entsteht, das dann am besten hält, wenn ich selbst den Überblick und die Kontrolle über die einzelnen Knoten verloren habe“.

      Kunzes Bilder stecken voller symbolischer Objekte: Totenköpfe, die in barocken Stillleben zum Memento mori mahnen, Musikinstrumente, deren Klang nur im Moment zu genießen ist, ruinöse Gebäude, die zeigen, wie vergänglich selbst Mauern sind. Und doch lassen sich seine Kompositionen nicht einfach als zeitgenössische Vanitas-Gemälde lesen. Jeder Gegenstand in der Kunst von Michael Kunze sei „immer schon die Allegorie der Allegorie“, schreibt Stephan Berg, Direktor des Kunstmuseums Bonn, in einem Essay über den Maler.

      Weil wir in seinen Bildern Alltagsgegenstände, Figuren, Architekturen erkennen, erwecken Kunzes Gemälde den Eindruck, man könne sie enträtseln, wenn man sie nur lange genug anschaut. Die figürliche Malerei suggeriert Lesbarkeit – ein Versprechen, das sie aber nicht einlöst. Hat Kunze im Chaos dieser gemalten Mikrokosmen eine Botschaft versteckt, etwa im seit Jahrzehnten wiederkehrenden Motiv der Sonnenschirme? Der Künstler antwortet ausweichend: „Jeder solche Gegenstand enthält nach vielen Jahrhunderten Bildund Textgeschichte so viele Deutungsmöglichkeiten, dass eine einzige Zuordnung nicht mehr interessant ist“, sagt er. „Stattdessen kann man diese Bedeutungsfülle als Argument nutzen, um sich den formal-anschaulichen Qualitäten eines Gegenstands zu widmen – ohne damit irgendeinen Text auszuschließen.“

      In seinem Atelier sitzt Michael Kunze vor dem monumentalen, noch unvollendeten „Nachmittag“. „Hier auf die Mauerkanten, da kommen noch überall Vögel hin“, sagt er – ein weiteres Motiv, das ihn schon seit Jahrzehnten begleitet. Und der rechte Bildrand sei noch nicht fertig. „Ich hoffe, dass ich es bis zum Sommer schaffe.“ Das Mammutprojekt gehört zum Bildzyklus der Tageszeiten, an dem Kunze schon seit seinem Studium an der Akademie der Künste in München arbeitet. Die Reihe ist das programmatische Herzstück seiner Kunst. 1988 beginnt er sie mit dem sechs mal sechs Meter großen „Morgen“, der mit seiner Struktur aus konzentrischen Kreisen an ein gotisches Rosenfenster erinnert. „Es ging mir auch um einen Gegenentwurf zur neoexpressiven Malerei, der viele meiner Kommilitonen damals anhingen“, erinnert sich Kunze. Glatt malt er damals, der Pinselstrich ist nicht zu sehen. Während der „Morgen“ an die Formensprache des Mittelalters erinnert, entspricht der 1995 vollendete „Vormittag“ der Renaissance: Das mehr als drei mal sechs Meter große Gemälde lenkt mit seiner offenen Architektur und den auffälligen schwarz-weißen Fliesen die Aufmerksamkeit auf die Fluchtlinien der Zentralperspektive. 24 Figuren, zahlreiche Sonnenschirme und Vögel sind nur einige der Parallelen zum „Nachmittag“. Zwischen ihnen liegt die Folge der acht „Mittags“-Bilder mit je drei Figuren: Sie variieren klassische Genres der Malerei von der Interieurszene bis zum Nachtstück. Der Tageszeiten-Zyklus spiegelt damit nicht nur die historische Entwicklung der Malerei, sondern auch Kunzes Leben: 2001, als er die „Mittags“- Reihe beendet, wird er 40.

      Dass Michael Kunze vor seinem Malereistudium auch drei Jahre lang Kunstgeschichte studiert hat, merkt man seinen Bildern an – genau wie sein Interesse für die Antike. Mutter und Bruder sind Archäologen. Schon der Großvater war langjähriger Leiter der Ausgrabungen in Olympia. Auch deshalb hat der Künstler enge Verbindungen zu Griechenland, wo er seit Jahrzehnten fotografiert. Meist in Schwarz-Weiß, seltener in Farbe hält er Bauruinen, dramatische Wolkenformationen und Mauerreste an Steilküsten fest.

      Die geheimnisvollen Fotos teilen die elegische Stimmung seiner Gemälde, stehen mit ihrer reduzierten Klarheit aber im Kontrast zur Detailfülle der Malerei. Der Künstler betont, sie seien eine eigenständige Nebenlinie seiner Kunst – keine Bildvorlagen. „Der Anknüpfungspunkt ist für mich eine bestimmte Form der Reisefotografie, in der bis in die 50er- und 60er-Jahre noch ein dokumentarischer und ein idealisierender Blickwinkel verschmolzen waren“, sagt Kunze. „Später zerfiel diese Verbindung: Aus dem dokumentarischem Bild wurde die wissenschaftliche Aufnahme, aus dem idealisierenden Bild wurde die Postkarte.“ Diese Trennung will Kunze wieder überwinden. Weder den genauen Ort noch das Entstehungsdatum seiner Fotos aus Griechenland benennt er.

„Obwohl meine Bilder den Eindruck einer fast hermetischen Verwobenheit erwecken, in der alles wie x-mal angehalten und durchdacht aussieht, komme ich eher auf chaotische Weise zu einem Resultat“

      Parallel zu seiner fotografischen und malerischen Arbeit schreibt Michael Kunze. Einige seiner Texte sind in Ausstellungskatalogen erschienen, ein Großteil ist bislang unveröffentlicht. Kunzes Literatur – irgendwo zwischen anspielungsreichem Essay und surrealer Kurzgeschichte – ist ähnlich schwer zu entschlüsseln wie seine Gemälde: Psychoanalytiker treffen in seinen Erzählungen auf Stewardessen, Architektur wird zum Grillrost. Der Leser muss schnellen Assoziationsketten quer durch die Jahrtausende zwischen griechischer Mythologie, Kupferstichen von Albrecht Dürer und Gedichten von William Blake folgen können. „Wo der naive Betrachter zurückbleibt, weil auch er eigentlich fliegen möchte, muss er versuchen, wenigstens zu springen“, fordert Kunze seine Leser in einem seiner Texte auf.

      Zentrales Thema für Michael Kunze in den Schriften wie der Malerei ist seine Theorie vom „Doppelweg der Moderne“. Die Kunst des 20. Jahrhunderts teilt sich laut Kunze in eine „Licht- und eine Schattenlinie“. Auf der einen Seite – Kunze sieht diese „im Licht“ – steht Paul Cézanne als Wegbereiter des Kubismus, dem unter anderen Picasso nachfolgte. Diese „Lichtlinie“ verlaufe über Futurismus und Konstruktivismus hin zur Conceptual und Minimal Art und präge „bis heute den Mainstream“. Im Gegensatz dazu sieht Kunze eine unterdrückte „Schattenlinie der Moderne“, die vom Symbolisten Arnold Böcklin und dem von Kunze hochverehrten Gemälde „Die Toteninsel“ von 1880 ausgeht. Diese Linie setze sich mit der Pittura metafisica von Giorgio de Chirico fort, führe zum Surrealismus und weiter zu verstörenden Filmen wie denen von Pier Paolo Pasolini oder Lars von Trier.

      Sich selbst sieht Michael Kunze in der Tradition dieser „dunklen“ Linie, in die er auch Künstler wie Balthus, Anselm Kiefer oder Matthew Barney einreiht. 2007 widmet er diesen von ihm so betitelten „bösen Buben der Moderne“ die Ausstellung „Les Messieurs d’Avignon“ im ZKM in Karlsruhe. Dort zeigt er eine Reihe von 60 Porträts, darunter Michel Houellebecq, Friedrich Nietzsche und Roman Polański. Der Titel der Schau bezieht sich auf Picassos Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ von 1907, das den Beginn des Kubismus markiert. Den von Picasso gemalten Frauen stellt Kunze Männer gegenüber, denen er einen „nach angloamerikanischen Maßstäben nicht unterhaltsamen, nicht informativen und nur schwer instrumentalisierbaren Bild- und Gedankenschatz“ zuordnet – so beschreibt er die „Messieurs“ selbst in einem Essay des Ausstellungskatalogs. Ihr Horizont könne „heute für das Modell einer Moderne jenseits von Marx und Coca-Cola maßgeblich werden“.

      Mit seiner Theorie vom „Doppelweg“ der Moderne stilisiert sich Michael Kunze zum Außenseiter mit prominenter Ahnengalerie. Dass zu einigen seiner Ausstellungen Verrisse in der Presse erschienen, wundert ihn nicht: Was solle man auch anderes erwarten von „den Orthodoxen“, wenn sie über einen „unorthodoxen Maler“ wie ihn schreiben?

      Auf der „Schattenlinie“ gebe es „keine politische Korrektheit“ und „keine verlässliche Moral“, schreibt er 2007 im Katalog zur ZKM-Ausstellung. Unter Kunzes „Messieurs“ finden sich beispielsweise auch Ernst Jünger und Oswald Spengler, der 1918 das Buch „Der Untergang des Abendlandes“ veröffentlichte. Sie gehören für Kunze ebenso zur Kulturgeschichte wie der Kommunist Pasolini.

       Bei aller Eigenwilligkeit ist Michael Kunze ein erfolgreicher Künstler. Ab dem Jahr 2000 wurden Sammler wie Wilhelm Schürmann und Ingvild Goetz auf seine Gemälde aufmerksam – Goetz kaufte zum Beispiel den monumentalen „Vormittag“. Auch in öffentlichen Sammlungen ist Kunze inzwischen vertreten, zum Beispiel in der Berliner Nationalgalerie oder im Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main.

Die Kunst des 20. Jahrhunderts teilt sich laut Kunze in eine „Licht- und eine Schattenlinie“

      Seine größten Einzelausstellungen in öffentlichen Museen verdankt der Wahlberliner dem Kurator Gregor Jansen: 2007 plante er die „Messieurs d’Avignon“-Schau im ZKM, 2013 Kunzes Retrospektive „Halkyonische Tage“ in der Kunsthalle Düsseldorf. „Seine Gemälde sind Weltrevolutionen der Seele“, schreibt Jansen, seit 2010 Leiter der Kunsthalle, über Kunze. Nun verleiht der Kurator dem Künstler auf der Art Karlsruhe den Hans-Platschek-Preis für Kunst und Schrift.

      Er geht an einen Maler, der hinterfragt, was sein jahrtausendealtes Medium heute noch aussagen kann. Kunzes Antwort liegt darin, die Geschichte der Kunst in seinen Bildern mitschwingen zu lassen – und dem Betrachter detailreiche Rätsel aufzugeben. Wer ihre Unlösbarkeit erkennt, hat das Wichtigste verstanden.