Der Stewardess-Analytiker

I
Zur Entspannung nach einem anstrengenden Gespräch unter Eheleuten kommt es zu allgemeinen Betrachtungen über Schildkröten.

Schildkröten leben lang und werden darum gern beneidet. In ihren ruhigen Bewegungen scheint jeder Alterungsprozeß angehalten zu sein, ohne daß jemals ein Widerstand sichtbar würde. Der neidvolle Betrachter, der schon zuviele Erinnerungen hat und doch nicht Ich sagen will, beginnt sich bei solchen Betrachtungen über die Kürze seines Lebens zu täuschen, –genauer gesagt über die notwendigen Lücken seines Lebens. Er glaubt, schon zu Vieles verpaßt zu haben, weil ihm nie genügend Zeit zur Verfügung stand. Die Lücken erscheinen ihm als Zeichen für jedes denkbare Versäumnis, doch sie könnten ohne Täuschung auch die entscheidenden Momente seiner Geschichte ausmachen, nicht Sand, sondern Öl im Getriebe, –und Salat für unsterbliche Tiere.

Entgegen dem Vorbild der Schildkröten muß der Betrachter, der den verpaßten Gelegenheiten nachtrauert, schließlich erkennen, daß mehr Zeit nicht mehr Gründlichkeit ins Geschehen bringt, sondern nur mehr Verzweigung und Vermehrung des Möglichen auf einer Ebene, in einem Augenblick. Die scheinbar stillstehenden und doch jeder Fixierung entgleitenden Momente, in denen die Wegspaltungen bis zur Phantomisierung aller verfügbaren Daten fortschreiten, sind die flüssigen Zentren einer nicht enden wollenden Geschichte. Ihre Lücken sind Quellen der Beschleunigung.

Was die Schildkröte solchen Verhältnissen vorauszuhaben scheint, beruht nur auf dem Trick einer langsamer gestellten Uhr. Gemäß dem physikalischen Gesetz, daß bei zunehmender Geschwindigkeit die Zeit selbst langsamer geht und die Masse größer wird, könnten die einschlafenden Bewegungen des beneideten Tiers von einem unvorstellbar hohen Tempo zeugen. Keiner kann hineinsehen in das, was gerade zu sehen ist, und so muß sich der Verstand damit trösten, wenigstens im Nachhinein klüger zu sein. Was schließlich der Vergleich der Geschwindigkeiten mit der vergehenden Zeit hergibt, ist Verwirrung mit System, –im Bild die Kehrseite der Monochromie. Nicht etwas Einfaches und unbedingt Wahres bildet jetzt die Grundlage einer Verbindung im Geschehen, sondern etwas Kompliziertes, Spekulatives und unübersehbar Detailreiches. Weil ein solcher Verbindungspunkt auf dem Weg vom Netz zum Schwamm allerdings nicht leicht zu handhaben ist, kann er dem Betrachter als Leerstelle erscheinen, worin die Überfülle des Wirklichen ihre maximale Auflösung erreicht hat.


II
Was unter einer Lücke im Einzelnen zu verstehen ist, muß ein Beispiel zeigen: Angesichts der unkalkulierbaren Effekte von leeren oder nur versäumten Augenblicken können anwesende Personen ohne sichtbaren Grund in Streit geraten. Während des Streites merken es die Streitenden meistens nicht, wenn ein Flugzeug so hoch über ihre Köpfe hinwegfliegt, daß es stillzustehen scheint. Die einfache Unmöglichkeit aber, daß ein stehendes Ding im Himmel nicht fällt, gibt dem Streit die Energie, auf Dauer ohne Resultat auszukommen. Über die Aufklärung bloßer Sinnestäuschungen sind alle Beteiligten längst hinaus.

Das Flugzeug wird zu einem grafischen Einfall im Raum, und dennoch existiert es auch anders, als schwerelose Spitze einer geraden Linie jenseits irgendwelcher Trägheit, und als metallener Bauch mit eingeschlossenem Leben. Während auf der Seite des abgewandten Betrachters um Worte für fehlende Daten gekämpft wird, herrscht an Bord des abstrakten und konkreten Körpers Zielstrebigkeit. Im Besonderen mit dem reibungslosen Ablauf des Fluges befaßt ist die Berufsgruppe der Stewardess-Analytiker. Die Aufgabe dieses neuen Berufs besteht darin, den Stewardessen bei psychischer Überforderung wieder auf die Beine zu helfen. Alle großen Fluglinien der Welt haben inzwischen in jedem Jet einen solchen Analytiker angestellt, als Dienstleistung an der Dienstleistung, da in der Folge des verschärften und globalisierten Wettbewerbs die gute Laune des Fluggastes zu einem berechenbaren Faktor des Geschäftes werden mußte.

Auf der Couch des Analytikers müssen entfernteste Pole aufeinander bezogen werden: Ein fallendes Tablett, Kaffee am Kragen des Gastes, der Griff an den Hintern der Stewardess, einfrierende Lachmuskeln beim Safteinschenken, Laufmaschen ohne Ende. Eine platzende Schwimmweste bei der Routinevorführung gibt schließlich das Signal für die notwendige Analyse. Als Kenner der Kurven seiner Patientinnen versucht der Analytiker zunächst durch gezieltes Handauflegen die Probleme zu vereinfachen. Während die rechte Hand unter der Kleidung verschwindet, hält er in der linken Hand einen sich drehenden Globus, den die Stewardess mit dem Zeigefinger und dem Ausruf Hier! anhalten darf. Ein Ruck geht dann durchs ganze Flugzeug, Handgepäck macht sich selbständig, und die Maschine sackt durch ein atmosphärisches Loch 200 Meter nach unten. Was dabei für die Einen ein Grund für das Erleben absoluter Freiheit ist, das wird für die Anderen zum Umkehrpunkt in die bedingungslose Gottgläubigkeit.! Houston oder Stockholm!, klingt es aus dem Therapieraum, in dem die Erdkugel angehalten ist. Mit dem verunschärften Blick auf den weiblichen Finger, der weder auf Houston noch auf Stockholm zeigt, sondern auf die tiefste Stelle des Indischen Ozeans, wird der Überfluß aller Kleidungsstücke diagnostiziert, und eine helle Projektionsfläche trennt seitdem die Welt des Guten von der Welt des Schlechten. Mit der auf den Kopf gestellten Paradiesvertreibung ist es aber nicht genug, denn jeder muß von jetzt an für den Fall des Vorhangs aus den Wolken einen eigenen Preis bezahlen. Nach Beendigung der Analyse erscheint die Stewardess wieder servicetauglich im Passagierraum, der Globus dreht sich wieder, das Flugzeug verläßt das Vakuum und fliegt fort, als sei nichts gewesen.
Ein Zeichentrickfilm ohne Titel bringt die angehaltene Erinnerung wieder in die Gegenwart zurück, nachdem man sich schon abgestürzt glaubte. Wer währenddessen auf der sicheren Erdoberfläche nach oben zeigte, um in der Auseinandersetzung über eine tatsächlich erlebte Lücke fortzukommen, der hat nicht einmal einen Ruck beobachtet, und auch die gewagteste Vermutung über das Geschehene bleibt hinter der Wirklichkeit zurück.
Nur der Stewardess-Analytiker selbst könnte etwas Nettes erzählen über Welten hinter Vorhängen, doch er hat in seiner Freizeit Anderes zu tun. Da sitzt er mit Handschellen unter einem Sonnenschirm und läßt sich von seiner Frau befragen. Sie ist mißtrauisch, wenn ihrem Mann die Arbeit zu viel Spaß macht, aber er betont ausschließlich die Mühen und Schwierigkeiten seines Berufs. Zum Schluß und zur Entspannung der Unterredung kommt eine Postkarte aus den Florentiner Boboli-Gärten auf den Tisch. Man sieht auf ihr einen ägyptischen Obelisken, der von vier bronzenen Schildkröten getragen wird. Würden sich die Schildkröten plötzlich in Bewegung setzen, so könnte man sich vorstellen, wie der Obelisk langsam durch den Garten wandert.


Texte ohne Verben, Köln 2002, S. 06