Etwas über Otto

Der Satz Otto ist tot ist der erste Satz, den ich in der Grundschule schreiben lernte. Ursprünglich hieß es nur Otto tot, zwei Worte aus besonders leicht zu schreibenden Buchstaben, einem länglichen Kreis, dem O, und einem durchgestrichenen Strich, dem t. Die nächsten zwei Buchstaben waren i und s, die auch nicht schwierig zu lernen waren, –und schon ließ sich ein ganzer Satz schreiben. Was dieser Satz aussagte, war nicht wichtig. Die Frage, ob Otto ein tatsächlich lebender Mensch gewesen war, kam niemand in den Sinn, obwohl es doch außer Frage stand, daß der erste geschriebene Satz kein falscher Satz sein konnte, was immer man unter einem richtigen Satz verstehen mochte.

Seit dieser Verkündigung von Ottos Tod ist Vieles an Zeit und Material hinzugekommen. Doch das Hinzugekommene hatte und hat immer öfter die Funktion, über das hinwegzutäuschen, was gleichzeitig verloren geht. Dieses scheinbar ökonomische Austauschspiel, das man als Älterwerden bezeichnet, hinderte mich nicht daran, den ersten selbst geschriebenen Satz im Gedächtnis zu behalten. Otto ist vielleicht doch nicht gestorben, und die Frage nach der begründbaren Wahrheit von Ottos Todesnachricht wird immer hinfälliger, je mehr Bedeutung der Satz enthalten kann.

Ob Otto nur ein kurzes Leben hatte, oder ob er unsterblich ist, –die Vermehrung der hierfür verwertbaren Daten bringt das Gegebene nicht zur Festigung, sondern zum Schwimmen. Eine Wissenschaft über Otto müßte eine Anti-Bio-Logik sein, ein Augenblick seines denkbaren Lebens aber, gezielt aus dem Zusammenhang gerissen, sagt mehr: Ein erwachsener Grübler z.B. geht zum Kühlschrank, ohne wirklich Hunger zu haben, und doch mit der versteckten Hoffnung, Kuchen zu finden. Wenn Otto lebt, dann müssen Ferien sein., – spricht dazu eine innere Stimme. Don Quijote war kein Phantast., sagt eine andere Stimme. Statt der Erfüllung unklarer Wünsche fallen jetzt Grundnahrungsmittel aus dem geöffneten Kühlschrank, als hätte sie jemand eingeräumt, der keine Ahnung von einer vernünftigen Stapelung hat. Während der Erwachsene beginnt, Obst und Joghurtbecher wieder einzusammeln, zeigt es sich, daß die Kinder inzwischen gelernt haben, mit Gartenschläuchen umzugehen. Sie haben den Schlauch zum Küchenfenster gebracht und halten den harten Wasserstrahl direkt ins Gesicht des ausgeschalteten Betrachters. Luftblasen steigen auf.

Wer jetzt keinen überflüssigen Hunger hat, der bedenkt gerade das Mißverhältnis von zunehmender Weltbevölkerung und abnehmendem Lebensraum, –um sich über seine gebundenen Hände zu beklagen in einer nur noch technisch fortschreitenden Moderne. Über gebundene Hände aber würde der geduschte Architekt in diesem Moment lachen, wenn er es könnte, ohne sich zu verschlucken. Nicht alles ist Nebensache auf Nebenschauplätzen, und die perfekte Sabotage kann oft so aussehen, als müßte ein großer Durst in der Sonne Ottos gelöscht werden.

Schließlich erscheint der Satz Otto ist tot wie eine Brücke, auf der man entweder mit Leibniz die beste aller möglichen Welten überblicken kann, oder auf der man mit Kafka einen unermeßlichen Verkehr wahrnehmen kann. Das Leben geht weiter in einer Mischung aus sexuell motivierter Theorieflucht, Trennung zum Trotz, und Gehorsam aus Melancholie. Wer daran zweifelt, der muß nur seinem Gegner die Karte zeigen, die er gerade nicht gespielt hat, damit die ungeschriebene Regel gilt: Des Einen Wagnis ist auch des Anderen Wagnis.


Texte ohne Verben, Köln 2002, S. 144