Nach Tsalal

In Edgar Allan Poes Roman »The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket« (1838) ist eine Insel namens Tsalal die letzte Station einer Seereise, die sich als eine einzige Aneinanderreihung von Katastrophen erweist. Diese Insel, im Südpolarmeer an der Grenze der bekannten Welt gelegen, wird zum Schauplatz einer blutigen Begegnung der Kulturen: Nur Pym und sein Freund Peters überleben den grausamen Hinterhalt, den die »wilden« Inselbewohner ihren Besuchern stellen. Nach einer Orgie der gegenseitigen Auslöschung und planlosen Zerstörung können sie nur knapp mit einem Kanu entfliehen und geraten, je weiter sie anschließend Richtung Antarktis vorstoßen, in eine Sphäre der paradoxen und mysteriösen Erscheinungen. Das Meer wird zunehmend wärmer, von unerklärlichen Farb- und Lichtspielen überbreitet, bis am Horizont ein riesiger Katarakt erscheint, der aus einer diffusen Helligkeit hoch vom Himmel herabstürzt. Große weiße Vögel gleiten über den warm strömenden Ozean hinweg, ihre Schreie lassen den letzten verschleppten Eingeborenen vor Schreck erstarren. Schließlich erscheinen in einer Öffnung des Katarakts die vagen Umrisse einer gewaltigen schneeweißen Figur – hiermit bricht der Bericht des Gordon Pym unvermittelt ab, und der Text endet in einem Verwirrspiel um dessen wahre Autorschaft (Pym oder Poe).
      Echo und Schnitt: In seinem Hauptwerk »Zettels Traum« (1970) widmet sich der Autor Arno Schmidt in einem etwas andersgearteten Abseits der historischen Umgebung den Möglichkeiten einer Übersetzung Edgar Allan Poes, mit dessen Texten ihn eine mahlstromartige Verwandtschaft verbindet. Der erste Band des insgesamt achtbändigen Werkes trägt den Titel »Das Schauerfeld oder die Sprache von Tsalal«. Auf dem letzten Zettel dieses Bandes geht es – parallel zu den letzten Ereignissen auf Tsalal – um die zerstörerischen Folgen einer kulturellen Begegnung, diesmal allerdings anhand eines vertrauteren Modells. Der Untergang der antiken Kultur wird auf drei Kräfte zurückgeführt: erstens »das Schlägertum der germanischen Partisanenvölker«, zweitens »das Gegammel des späten Rom« und drittens »die Geistesabwürgung durch das Xentum (Christentum)«. Schmidts Darstellung steht hier in der Tradition einer aus idealistischen Denkströmungen stammenden Kulturkritik, die spätestens seit Nietzsche in diesen drei Faktoren – bei Nietzsche polemisch zusammengefasst unter den Begriffen »Sklavenmoral « und »Herden-Ressentiment« – die generelle Bedrohung von Kunst und Kultur überhaupt sieht. An der Schwelle zur Moderne wurde in der genannten Mixtur aus Barbarentum bzw. Neo-Barbarentum, spätzivilisatorischer Dekadenz und einer Ideologie der Gleichmacherei und des kleinsten gemeinsamen Nenners (vom christlichen zum sozialistischen Ideal) das aufkommende Massenzeitalter erkannt, in dem die Differenzen eingeebnet werden, die für kulturelle und künstlerische Hervorbringungen jenseits der bloßen Unterhaltung notwendig seien. Ein Werk wie »Zettels Traum« sieht sich selbst in dem genannten Sinn als Bollwerk gegen die nivellierenden Tendenzen der Kulturindustrie, Arno Schmidt pocht damit unzeitgemäß auf den »E«-Status von Kunst, d. h. auf einen definierten Abstand zum Betrachter/Leser, und er steht damit in der Tradition ebenjener scheinbar antimodernen Moderne, die verruchterweise und nicht proletarisch korrekt auf Pop-Kompatibilität verzichtet. Nicht auf den Tagesgeschmack, sondern auf ein weitverzweigtes und schwierig zu erschließendes Wurzelwerk sei hier der Akzent gesetzt: »Kunst herzustellen ist Schwerst-, sie richtig zu verbrauchen, Schwer- Arbeit.« (Zettel 137)
       Echo und nächster Schnitt: Der Anspruch, eine nicht zu reduzierende Komplexität der Verhältnisse angemessen zu thematisieren, eröffnet die Frage, was jenseits des Populären noch mitteilbar ist. Diese Frage führt zu dem sichtbaren/lesbaren Teil eines Kontextes, der nach der gegenseitigen Kulturauslöschung (Tsalal, Rom, Moderne) Gültigkeit hat. Zu diesem Zweck wird im Bild nochmals ein Schlussszenario aufgerufen, eine Versammlung merkwürdiger Gestalten auf dem Dach der Villa Malaparte auf Capri, aus dem Film »Die Verachtung« von Jean- Luc Godard (1963). Hier geht es nicht wie in den genannten Schlusssequenzen bei Poe und Schmidt um die Destruktion, sondern um die Rekonstruktion eines kulturellen Standortes: Für seine Neuverfilmung von Homers »Odyssee« möchte ein amerikanischer Produzent mit Geld und Machomanieren einen neuen Drehbuchautor anheuern, um sogleich auch mit dessen Ehefrau offensiv zu flirten. Das Eindringen des fremden Geldes und Draufgängertums in die hochkulturelle Sphäre eines geschwächten, alt gewordenen und dennoch ehrwürdigen Europas, verkörpert durch Fritz Lang, der selbst den Regisseur des »Odyssee«-Films im Film spielt, wird hier zum Thema der Verachtung Godards (ebenfalls verkörpert durch Fritz Lang?). Die Verbindung zweier nicht zusammenpassender Welten, die aber aus ökonomischen Gründen offenbar unvermeidlich ist, scheint zwar den großen Urtext in seiner Substanz anzugreifen, doch sie führt auch – gleichsam auf einem Seitenweg der Erzählung – zu einer nochmaligen Ausuferung von Bildern und Anspielungen, die den ursprünglichen Stoff über seine Dämmerung hinaus spiegelt, als wäre der historische Horizont erst durch seine nachgewiesene Unerreichbarkeit ins Reale eingerückt. Der letzte stumme Auftritt des Odysseus, das gleißende Licht auf dem Dach der Villa Malaparte, in deren Exponiertheit sich Böcklins mythisch-versinkende »Villa am Meer« mit futuristischen Architekturideen zu vereinigen scheint, nicht zuletzt auch der Nachhall jenes Streites zwischen den Protagonisten Camille und Paul, in dessen existenziell gefärbter Vergeblichkeit der Unfalltod der modernen Helena bzw. Penelope sich schon ankündigt – all dies schafft einen atmosphärisch verdichteten Bild- und Textzusammenhang, der den Betrachter/Leser nochmals eintauchen lässt in eine imaginäre Welt nach Tsalal. Die Spanne zwischen mythischer Vergangenheit und überblendender Gegenwart, antiker Identität und moderner Ent-Identifizierung, ruft eine Erinnerung wach, die auch gegen die internen Selbstauflösungstendenzen von Bild und Text neuen Stoff anreichert.
       Und woher kommt dieser Stoff? Echo und letzter Schnitt: Zum Schluss der Nach- Tsalal’schen Rundreise steht nicht ein Endszenario, sondern ein ebenso wortloser Anfang. Zu Beginn von Pier Paolo Pasolinis »Medea«-Verfilmung (1969) ist die Inszenierung einer Menschenopferung zu sehen, in langsamen sprachlosen Bildern, wie sie Pasolini immer wieder verwendete, um der archaischen Undurchdringlichkeit seiner Inhalte nahezukommen. Medea als Nachfahrin des Sonnengottes galt als Magierin, und sie stand damit im Mythos für eine vorgriechische, d. h. voreuropäische, »barbarische« Kulturstufe, deren Merkmal u. a. das Menschenopfer war. Der Kreis nach Tsalal scheint sich hiermit erneut zu schließen: Aus der Konfrontation ist eine Verdrängung geworden, das unannehmbare Opfer wird versteckt, die unberechenbare Herrschaft über die Elemente wird zur Hexerei erklärt, und die vergessene Übermacht in der Raserei der Gefühle wird zum unwiderruflichen Schicksal im Licht der Erkenntnis. Diesem Licht entspringt keine wilde Tochter mehr, auch kein Erlöserphantom im warmen Meer der Antarktis, sondern ein einfacher Schatten, der lang und tief wird, wenn die Lichtquelle das Auge nicht mehr blendet. Was darin alles erkennbar wird, füllt manche Lücke und undichte Stelle aus, die in der Hitze des Gefechts entstanden ist und dem Boot seine Schlagseite gab.


Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 161