Welt in Stücken / The World in Pieces

Texte zur Ausstellung BubeDameKönigAss • JackQueenKingAce

—Anna-Catharina Gebbers

Um es vorwegzunehmen: Allen vier Künstlern ist gemeinsam, dass sie betonen, wie wenig die Malerei sie um ihrer selbst willen interessiert. Die Bilder sollen vielmehr über ihr eigenes malerisches Dispositiv hinausweisen. Jeder der vier Künstler formuliert spezifische, die Gegenwart betreffende künstlerische Forschungsprojekte, für die er die Malerei als Forschungs-Tool einsetzt und sich damit in mehr oder weniger distinkter Weise in einer Kombination aus Imagination und Logik auf einem Feld experimenteller Kultur bewegt1 . Dennoch haben alle vier Künstler ihre Position im Kunstbetrieb als Maler behauptet und sich jenseits rein konzeptueller, kontextueller Kunstrichtungen etabliert.

Alle vier Maler entstammen einer Generation von Künstlern, die am Anfang ihrer Karriere erlebte, wie sich parallel zum Ende des politischen Ost-West-Konflikts und dem längst besiegelten Tod der Kunstismen ausgerechnet im Feld der Kunst eine ideologische Dogmatik ausbreitete, die neben kontext- und konzeptuell-orientierten Kunstpraktiken kaum etwas anderes gelten ließ. Sie suchten ihre eigenen Wege – und darin mag man einen Tabubruch, eine Provokation oder einfach die Suche nach parallelen Strängen der Kunstgeschichte sehen – jenseits nicht nur derjenigen subjektivistischen Haltungen, die sich aus der Aufklärung ableiten und immer noch in unserer Kultur vorherrschend sind, sondern auch jenseits der strukturalistischen, poststrukturalistischen und stark realistischen Positionen.

Gemeinsam ist ihnen, dass sie das als anachronistisch geltende Medium Malerei wählten, um sich in Stellung zu bringen gegenüber der Moderne, die von diesen vier – wie von vielen Künstlern ihrer Generation – mit all ihren Verheißungen und ihrer Neuigkeitsbesessenheit hinterfragt wird.


Ruinen der Moderne

Einen zentralen Hinweis darauf liefert etwa das von allen Künstlern verhandelte Ruinenhafte bei grundsätzlicher Abgeschlossenheit der äußerlichen Form der Werke. Das Fragment als Metapher für das prinzipiell Unabschließbare formuliert sich hier über eine innerliche Fragmentarizität wie motivische Brüchigkeit, formale Zersplitterungen oder Spuren legende Materialien. Verwitterung, Korrosion, Verwischung, Abnutzung, Verschmutzung oder Beschädigung markieren Zeitabläufe auf der Material- oder Darstellungsebene. Ein damit einhergehendes melancholisches Moment ist allen Werken eingeschrieben, nicht jedoch Nostalgie. Die Rolle der Ruine in der zeitgenössischen Kunst und deren Bewertung, die sich etwa von der in der Romantik unterscheidet, wird seit einigen Jahren in der kunstgeschichtlichen Forschung debattiert2. Ruinen stellen für die mit dieser Ausstellung vorgestellten Künstler Orte eines kulturellen Weiter- und – im Sinne Aby Warburgs – Nachlebens von Vergangenheit dar. Den Hintergrund bildet der Wunsch, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«3 und einzugreifen. Denn: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«4 Stets schwingt mit, dass die Jetztzeit die Ruinen der Zukunft gebiert und Umdeutungen möglich sind. Für die in der Ausstellung versammelten Künstler lautet die Frage nicht »Welche Objekte sind (permanent) Kunstwerke?«, sondern vielmehr »Wann ist ein Objekt ein Kunstwerk?«5. Wann oder warum also ist Kunst?

Neben dem Brüchigen, Widerständigen findet sich eine doppeldeutige Feier der glänzend glatten Flächen, die entweder aus industrieller Fertigung stammen oder diese zitieren und einen Glamour ausstrahlen können, der auch als ein zentrales ästhetisches Paradigma des Kapitalismus verstanden wird. Doch trotz aller Fortschrittsskepsis haben alle vier das Vertrauen in Neuerungen nicht verloren. Und ihr Ausgangspunkt ist zwar eine Revision der hegemonialen Diskurse und Dispositive, aber nicht in Form der direkten Bezugnahme einer negativen Dialektik. Die hier versammelten Künstler lassen sich deshalb in ihrer Unterschiedlichkeit am besten ohne die üblichen, kunstkritischen Begrifflichkeiten greifen. Sie legen die Vorschläge zu ihrer Lesbarkeit vielmehr in ihrem eigenen Werk an, was den in der Ausstellung und im vorliegenden Text verfolgten hermeneutischen Zugang6 nahelegt.


Drastik

Die tiefe Skepsis gegenüber Ideologien und den großen Erzählungen7 führt dazu, dass alle Positionen sich auf die eine oder andere Weise in einer Direktheit vermitteln, die ohne diskursiven Überbau und ohne eine sprachlich geäußerte Programmatik auskommt. Ihre jeweiligen Plädoyers gegen eine bestimmte historische Form der Rationalität, die auf der Ausgrenzung des Heterogenen basiert, formulieren sie über das Bildhafte und konkret durch Malerei.

Diese Direktheit ist Teil einer gewissen Ästhetik der Drastik, die als kulturelle Strategie dazu dient, Ängste zu bannen, und zugleich daran erinnert, dass ein Anderes möglich ist. Ohne dass dies zwangsläufig Beliebigkeit bedeutet. Vielmehr wird präzise hingeschaut und eine Bestandsaufnahme derjenigen Ängste vollzogen, die zum Wohle einer kongruenten Erzählung verdrängt werden. Eine »radikale« Drastik greift diese Phobien oder Ungereimtheiten »an der Wurzel« auf der formalen Ebene oder von malerischen Aspekten unabhängig auf der Ebene der Bildthemen, die heftige Affekte provozieren. Drastik ist charakterisiert durch ein sehr genaues Hinsehen, durch Überpräzision und ist in diesem Sinne auch Aufklärung. Doch vor allem berührt Drastik auf einer fast physischen Ebene: indem Farbe und Material wie in den Arbeiten von Reyle und Scheibitz spürbar werden, ein metaphysisches Grollen wie in Kunzes Œuvre die rationale Verdrängung unmöglich macht oder die Motive heftige Affekte auslösen wie bei Eders Werken.


Mimesis

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass bei allen Künstlern im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen ein fundamentaler Wirklichkeitsbezug steht, der für ihre künstlerischen Verfahren dank der Mimesis konstitutiv wird: das zunächst einmal binäre Verhältnis einer Referenz bei Ausdruck, Darstellung oder Nachahmung. Die angenommenen Unterscheidungen zwischen Urbild und Abbild, Sein und Schein, primärer und sekundärer Wirklichkeit bilden ihren Angriffspunkt. Diese Beziehungen werden auf einen mimetischen Zusammenhang ausgeweitet, den Walter Benjamin als »unsinnliche Ähnlichkeit«8 bezeichnete, da er neue Welten erschafft, indem er alte referiert und zugleich auf Entkontextualisierung beruht. Ihre Kunstwerke verstehen sich auch als ein emanzipatives Reorganisieren und Remodellieren der Welt9 . Je nach Beziehung auf die symbolische Ordnung umfasst Mimesis hier Nachahmung, Imitation, Repräsentation, Ähnlichkeit und Welterzeugung10 . Die jeweiligen Einstellungen und Haltungen, die die einzelnen Werke dabei gegenüber der (gestalteten) Wirklichkeit einnehmen können, reichen von mimetischer Affirmation, Repräsentation und Zugang zur Welt über Elegik und Inszenierung bis zu Antizipation und Erzeugung von Welten.


Martin Eder

Verführerisch blicken sie einen an, die kleinen Mädchen ebenso wie die kleinen Kätzchen. Bei manchen meint man, ihr Fell kraulen zu können, so präzise und filigran sind sie gemalt. Bei anderen fühlt man eine Flauschigkeit, die sich über die Verschwommenheit der Zeichnung vermittelt. Die Abgebildeten appellieren so unmittelbar an unser Begehren, dass es fast wehtut. Und schnell wird klar, dass es Martin Eder tatsächlich primär um das Verführerische geht. Eigentlich schafft er ein Abbild von Teenager-Vorlieben: In Mädchenzimmern pendelt die Aufmerksam zwischen Fotos von Tierbabys, Popstar-Poster und unschuldig nachgestellten GNTM-Posen11 für unendliche Facebook-Galerien; in Jungszimmern gesellen sich zu den Legosteinen allmählich online geteilte Gore-Pin-Ups, Rap-Attitüden und YouPorn. Eine Lebensphase, in der gerade Musik so grandios sein und in ihrer Schönheit so schmerzen kann, dass man sterben möchte. Doch Eder postet keine Fotos im Internet. Er malt im Stil von geposteten Fotos in einer warenfetischistisch geprägten Welt. Damit setzt Eder die beiden Bilddispositive nicht nur einem Vergleich aus. Sondern er stellt provokant das malerische Dispositiv auf die gleiche Ebene wie die Funktionsweisen konsumkultureller Popphänomene: Das Gemälde als solches wird hier als Objekt einer sentimentalen Sehnsucht markiert. Es geht ihm nicht zentral um die Malerei an sich und ihre formale Tradition, sondern um Malerei als eine Technik und eine für alle leicht verständliche Sprachform, mittels derer sich Eder wie unter einer Tarnkappe durch den Raum des Geschmacks und der Distinktionen bewegen kann.

Eder unterscheidet den Maler Martin Eder und seine Persönlichkeit vom leiblichen Martin Eder. Er bedient in ähnlicher Weise Klischees wie Tank-Girl-Zeichner Jamie Hewlett und der Musiker Damon Albarn: Mit ihrer virtuellen Supergruppe Gorillaz aus einem schweigsamen Punk, einem präpubertären Asia-Girl, einem misanthropischen Altrocker und einem gutmütigen, aber zu Wutausbrüchen neigenden Hip-Hop-Hünen schufen sie Sinnbilder für mittlerweile bestens vermarktbare Jugendprotestformen. So wie der Maler das Stereotyp für das immer noch gut verkäufliche Geniemodell und das Gemälde dessen Platzhalter ist. Eder dient die mimetische Verdoppelung dazu, der Ambivalenz zwischen der aufgeladenen Subjektivierung des Mediums selbst und der Objektivierung von sich als Künstler als Phänomen der kapitalistischen Gesellschaft nachzuspüren.

Auch in seinen Aquarellen, Fotografien und Musikprojekten unterzieht Eder die Bedeutungsentwürfe einer gestalteten Wirklichkeit einer Kritik. Er thematisiert, dass soziale Mimesis daran beteiligt ist, gesellschaftlichen Distinktionen in modernen Gesellschaften ihren Wert zu erteilen. Bereits während der Studienzeit gründeten die Künstlerin Lisa Junghanß und er das gemeinsame, transmediale Projekt NovaphormTM, das sich der Erforschung der Realität widmete. Über die Produktion von Pillenschachteln, die temporäre Eröffnung von Clubs in Berlin oder ein Hotel12 gingen Junghanß und Eder der Kommerzialisierung und Erzeugung künstlerischer Welten nach. Aus dem Gemeinschaftsprojekt, das die Realität als riesiges Theater, Bühne und Inszenierung betrachtete, nahm Eder das Prinzip mit, einzelne Module aus diesem Theatrum mundi herauszuschneiden, zu verdoppeln und genauer zu untersuchen. Der zur Verdoppelung gewählte Ausschnitt wird mittlerweile immer kleiner und das für die Untersuchung erzeugte mimetische Abbild in seinen Werken so weit vergrößert, dass es von seinem vormaligen Bedeutungsrahmen abstrahiert wird.

Einen engeren Bereich dieser von ihm unternommenen seismografischen Erfassung gesellschaftlicher Prozesse bildet die Kunstszene. Eder spiegelt etwa mit dem Verweis aufs malerische Dispositiv und dem damit einhergehenden »Begehren nach einem Quasi-Subjekt«13 wider, welche Sammlersehnsüchte zum ökonomischen Unterhalt der Kunstwelt beitragen. Durch die von ihm gewählte Stilistik vergleicht er den Kunstbetrieb mit den wahren Galerien der Gegenwart: den Zeitschriftenläden, Postershops oder Internetsuchergebnissen. Mit den Abbildungen erotisch posierender, nackter Mädchen oder gigantischer Hinterteile ebenso Kätzchen-, Hündchen- und Pferdebildern findet Eder starke Symbole und eine allgemeinverständliche visuelle Sprache, die sowohl ein Statement zu unserer zeitgenössischen Lebenswelt formuliert als auch zeitlose Ergebnisse schafft. Denn tatsächlich bewegt er sich innerhalb der malerischen Gattung streng im Bereich traditioneller kunstgeschichtlicher Genres: Akt, Porträt, Tier- und Landschaftsmalerei. In einer Art Eulenspiegelei fördert er auch hier affirmierend und mit dem Vergrößerungsspiegel Klischees zutage. Weder die Abbildung von mehr oder weniger bekleideten Frauen stehen für ihn im Vordergrund noch malerischer Perfektionismus, sondern das analytische Spiel mit dem Genre.

Realiter erfasst er mit seiner Vermessung auch die affektive Reaktion. Eders Spiel bringt zutage, welche Schwierigkeiten der Kunstbetrieb auch heute noch mit Gefühlen hat, die nicht in die Kategorien des Erhabenen oder des Schönen fallen: Die Grenzen zwischen akzeptierter Kunst, die die Gegenwart reflektiert, und tabuisiertem Kitsch lassen sich nur schwer ausmachen, wenn Genreklischees und Effekte nicht unter Rubriken wie Ironie, Pastiche oder Appropriation fallen. Beherrscht wird der Kunstbetrieb in großen Teilen durch ein trianguläres mimetisches Begehren: Das Begehren nach etwas richtet sich danach, was andere begehren und für wertvoll erachten14 . Diese für die Wertform Malerei entscheidende Struktur spielt Eder ebenfalls als Eulenspiegelei durch, indem er einen Katalog gemäß jener Praktiken produziert, die nach den spezifischen sozialen Regeln der Kunst Legitimisierung und Gültigkeit signalisieren15 : Die Herausgeberschaft durch eine staatliche Institution, die museale Gestaltung und die Expertisen namhafter Autoren führen vor, wie im Kunstfeld wertsteigerndes symbolisches Kapital gesammelt wird. Zugleich zeigt Eder durch diese ironische Distanzierung, dass es nicht weiterführt, in seinen Werken den technisch versierten Maler, etwaige Bezüge zu Picabias Paraphrasen, Balthus’ Tableaux oder Kaufhaus-Kunst zu suchen.

Entsprechend Andy Warhols Diktum »Gib den Leuten, was sie wollen« erzeugt Martin Eder immer wieder neue Bilder von Kätzchen, Hundewelpen, Ponys und jungen Mädchen. Er gleitet exzessiv an der Oberfläche entlang, wiederholt bitterböse die immer gleichen Motivarten und wird damit in gewisser Weise deutlicher als Warhol: Er offenbart, dass hinter aller Drastik der Ennui liegt. Birth of the Cool aus dem Geiste der bürgerlichen Langeweile: grundloser Überdruss und Nihilismus als Gefühlslage der Großstadtmenschen, in der sich Ekel, Abscheu, die Entfremdung gegenüber dem Dasein und die Faszination am Bösen16 verbinden und die immer neue Reize fordert.

Wie Prometheus, Frankenstein und Faust zugleich ziehen Hewlett und Albarn die Strippen hinter ihrer virtuellen Band aus Klischeefiguren. Sie artikulieren ihr Unvernehmen mit der Substanzlosigkeit der MTV-Welt weder durch eigene Auftritte in Protest-Parolen rufender, leiblicher und damit wahrheitsästhetischer Identifikation noch als theatrale Verkörperung im Sinne einer Ästhetik der Inszenierung, sondern als kühle Studiomusiker hinter dem Projekt Gorillaz. Einer blutleer gewordenen Ästhetik des Aufstands halten sie mit einer Ästhetik des Widerstands17 den Spiegel vor. Nicht, indem Kunst repräsentiert, imitiert oder eine politische Realität auf die Bühne bringt, die anderswo stattfindet, sondern indem man die Politik oder das Politische in die Struktur der Kunst gelangen lässt und damit auch die Gegenwart auseinanderbricht, geschieht etwas – so Jacques Derrida18 . Zombies gegen Zombies also. Eder treibt das Gefühl der Apathie, der gesellschaftlichen Stagnation auf seine garstige Spitze, indem er zeigt, dass sich in der westlichen Gesellschaft trotz aller erreichten Meilensteile der Avantgardekunst oder der existenzialistischen Philosophie eine Sehnsucht nach dem Anrührenden, dem Niedlichen, dem Verspielten, aber auch dem Schaurigen etabliert. Ugly Feelings19 . Gnadenlos richtet Eder sein Brennglas auf diese verpönten Emotionen – sündhaft, weil die akademische Ästhetik keine Kategorien für sie hat und ihr entgeht, wie sehr die alltägliche Ästhetik sich an der kapitalistischen Konsumkultur orientiert. Die vordergründige, leicht für einen großen Rezipientenkreis zu dekodierende Attraktivität seiner Bilder ist das Trojanische Pferd für sein liebevoll aufklärerisches Projekt, das darauf hinweist, dass sich gerade hinter dem schönsten Figurativen der Abgrund des schieren unbenennbaren Grauens auftut. Die Malerei erlaubt ihm wie kein anderes Medium die dafür notwendige Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Realitäts- und Bildebenen.


Michael Kunze

In den Bildern von Michael Kunze verliert sich das zunächst entdeckte Bekannte und Lesbare im Zuge der Betrachtung. Seltsame Architekturen stehen in aufgesplitterten Landschaften und sphärischen Bildräumen. Gigantisch ragen sie vor dagegen zwergenhaft wirkenden, vereinzelten Menschen in die Höhe. Das Panoramisch-Monumentale bricht sich am winzigen Detail. Klare Linien durchziehen die absurden, zerstückelten Szenerien und bringen die Formen in nie gesehene Verbindungen. Die zerlegten Bildinhalte bleiben fragmentarisch ohne Anfang und Ende wie eine niemals abgeschlossene Narration. Stattdessen überraschen die surrealen Welten und ihre Architekturen mit höchst eigenen Bildfindungen des Malers. Die von Kunze gemalten Porträts sind hingegen entweder fast fotorealistisch, auf Wiedererkennbarkeit angelegt und zeigen reale Literaten, Filmemacher und Philosophen. Oder sie durchlaufen fast meditativ introspektiv durchgeführte Dekonstruktionsprozesse und enthalten schließlich nur noch Spuren des Abgebildeten. Der Malstil wirkt bei allen Werken auf den ersten Blick altmeisterlich, filigran, zugleich opulent und offenbart im Detail die nahezu komplette Abwesenheit eines sichtbaren Pinselduktus. Gegenüber den sprudelnden, explodierenden Bildinhalten erscheint das Gestische wie angehalten, eingefroren. Das dahinter zu vermutende Streben nach einer perfekten, pinselspurenlosen, fast mittelalterlichen Lasurtechnik bildet jedoch nicht das Herz von Kunzes Praxis. Ebenso wenig die gezielt anti-expressionistische Vermeidung einer genialischen Peinture-Geste. Das alles ist nur Mittel zum Zweck. Denn auch diesen Künstler interessiert Malerei nicht um ihrer selbst willen. Ebenso wie Martin Eder setzt Michael Kunze das Medium vielmehr geradezu konzeptuell ein.

Aber obwohl es auch formale Verwandtschaften gibt, verhandelt Kunze nicht wie Eder die Besetzung des Mediums als bürgerliches Distinktionsmittel. Vielmehr interessiert ihn der Bezug zu einer über zweitausendjährigen Geschichte der Visualisierung von Weltbildern, an die sich seiner Meinung nach eben nur mittels des uralten analogen Verfahrens Malerei anknüpfen lässt. Dieser in der Malerei aufgehobenen, gleichsam genetisch eingeschriebenen kulturgeschichtlichen Überlieferung gilt Kunzes eigentliches Augenmerk. Besonders aufmerksam betrachtet er die mit der Aufklärung einsetzende weltanschauliche Zersplitterung in Fortschritt und Wiederkehr des Immergleichen, in Freiheit und Nihilismus, in lineare und nicht-lineare Narration.

Kunze möchte die Moderne mit ihrem Anderen konfrontiert sehen. Darauf verweist er, wenn sich in seinen Bildern Bezüge zu Werken von Arnold Böcklin, Giorgio de Chirico, George Grosz oder Francis Bacon auftun – Künstler, die mit der vorherrschenden akademischen Malerei ihrer Zeit und dem Fortschrittsglauben der Moderne brachen und in diesem Sinne Antagonisten von Paul Cézanne oder Pablo Picasso sind, nämlich metaphysisch, symbolistisch, surrealistisch. Und darauf spielt Kunze ebenfalls an, wenn er als Autor in seinen Texten gerade nicht Johann Wolfgang Goethe oder Oswald Wiener, sondern Friedrich Hölderlin, James Joyce oder Arno Schmidt anklingen lässt: Schriftsteller also, durch deren literarische Versuche des simultanen, möglichst lückenlosen Aufschreibens die Kontur der Dinge im Verlauf der Erfassung immer fragwürdiger wird und sie durch Überpräzision ins Unleserliche kippen. Die Wirklichkeit, die mit diesem mimetischen Gestus nachgebildet werden soll, zersplittert in Bruchstücke.

Dem Begehren nach vollendeter Aufklärung und Vermessung von Phantasmen scheint Kunze nachkommen zu wollen, wenn er seinen Bildern Titeln mit Tageszeitangaben gibt, strenge, geometrische Raster zugrunde legt, die Zentralperspektive überdeutlich durchdekliniert und in seinen Texten wie Bildern Ideologien geografisch verortet als Ost-West- oder Nord-Süd-Konfrontationen darstellt. So fügt beispielsweise das Bild Nach Tsalal, Außen I (2009) Jean-Luc Godards Film Le Mépris20 in dieses Raster aus Ost und West, aus klassischer Antike und amerikanischer Moderne ein und weist auf die im Film vorkommende Villa Malaparte motivisch hin. Doch zugleich betätigt er sich als Sprengmeister jeglicher mathematischen, statistischen oder logischen Musterbildung, wenn er etwa Böcklins Symbolismus mit den ideologischen Blöcken des Kalten Kriegs und auch noch mit einem fingierten Seefahrerbericht von E. A. Poe kurzschliesst, die Zentralperspektive dann aber ad absurdum führt, indem er den Kampf der Kulturen auf seinen Bildern toben lässt. Kunze überlädt seine Bilder mit einer Fülle von Zitaten, Verweisen und Anlehnungen; er legt realistische, surrealistische und bis ins Abstrakte dekonstruierte Darstellungen übereinander; er besteht darauf, dass Bilder texthaltig und Texte bildhaltig sind; er argumentiert philosophisch, dokumentiert zugleich und kommt erzählend vom geradlinigen Weg wieder ab. Steht mit dieser, an die prinzipielle Unabschließbarkeit von romantischer Ironie, Fragment und progressiver Universalpoesie gemahnenden Haltung die malerische Praxis von Kunze doch im Dienste der Aufklärung? Man meint eine Argumentationskette herauszuhören, die eine Revision romantischer Konzepte als einen Weg betrachtet, Rationalismus und Aufklärung über ihre dunkle Seite zu unterrichten. Kunzes Über-Rationalismus würde die Romantik dann als einen Bestandteil »des sich selbst erkennenden und die Grenzen seiner Macht erkennenden Rationalismus selber«21 ausweisen.

Und schon verführt die Rezeption von Kunzes Malerei zu genau jenen Gedankenspielen über eine Revision der Moderne und unserer Gegenwart, die der Maler mit seinen Tableaux auslösen will. Über ihr eigenes malerisches Dispositiv hinaus verweisen sie auf die Texthaltigkeit der Weltgeschichte und die Kontinuierlichkeit bestimmter philosophischer Fragestellungen. Kunzes Werke verleiten uns etwa, die bis in unser Alltagsdenken hineinwuchernden Fragmente von idealistischem Gedankengut wahrzunehmen, durch welches wir annehmen, die Welt sei ein aus der Existenz eines abgegrenzten, einheitlichen Subjekts und einer Ich-Konstruktion entstehender Entwurf. Und selbst wenn ein Betrachter die zitierten Filme, Romane oder Architekturen nicht konkret kennt, so wird er im westlichen Kontext Kunzes Bilder zumindest vor dem gleichen kulturellen Hintergrund rezipieren, aus dem sie sich speisen. Dennoch ist Kunze als Maler kein Illustrator philosophischer Themenstellungen oder poetischer Erzeugnisse. Aber er nimmt eine Gegenposition zu Clement Greenbergs essentialistischer Schlussfolgerung aus der Eigenlogik der Malerei ein. Indem Greenberg einen transhistorischen, text-synthetisierenden, durch alle semantischen Ebenen hindurchführenden Aspekt verleugnet, betreibt er nach Ansicht von Kunze einen auf Formalismen hinauslaufenden Reduktionismus.

Kunzes Malerei, Texte und Fotos bilden parallel entstehende, unabhängige Werkgruppen, die einander nicht ergänzen oder gegenseitig erklären, sondern auf unterschiedliche Weise das Ineinanderschieben von Splittern und das Schaffen von Freiräumen für das Metaphysische umsetzen. Sie interagieren über die Bespiegelung der gleichen Gegenstände miteinander. Aber während die Fotografien eher kühl dokumentieren, tendieren Texte und Malerei zum Exzess, bis sie jegliche Bedeutung in sich aufsaugen. Den zwitterhaft, zwischen philosophischen und literarischen Einsprengseln Synergieeffekte erzielenden Texten entspricht die Malerei, wenn sie zwischen lesbaren Strukturen, ornamentalen Formen und reiner Malerei zu flimmen beginnt. Die dechiffrierbaren Elemente überlagern einander motivisch bis zur Abstraktion. Paradoxerweise entstehen im gleichen Zuge utopische wie dystopische neue Welten. Wie zeitgemäß Kunze mit diesem scheinbar so anachronistischen Medium ist, zeigt die ungewollte visuelle Analogie zu den virtuellen Welten in gegenwärtigen Computerspiel-Designs mit ihren fragmentarischen Wirklichkeiten. Gegenüber Werken von Andy Warhol, Sigmar Polke oder Bruce Nauman wirken Kunzes bildmagische Malereien hingegen geradezu exotisch. Kunzes Neuinterpretation des Vergangenen markiert die negative Präsenz von etwas Verdrängtem und eröffnet damit eine neue Wahrnehmung der Gegenwart. Seine Mimesis ist möglicherweise eine Form von Elegik – ein Ausdruck des Verlusts einer alle ihre Gegensätze und Themen zulassenden Welt. Auch er spielt wie Martin Eder darauf an, dass sich mimetische Welten von der historischen Wirklichkeit lösen und eine Art höhere Wirklichkeit darstellen können: Eine Bühne wird eingerichtet, die die Welt so repräsentiert, wie sie sein und die Realität definieren soll.

Malerei wird bei Michael Kunze zum absurden Spektakel mit komplizierten Lesbarkeitseffekten – zum Sinnspaß am Abwegigen, am Surrealen, aber auch an der Distanzierung und der reflektierten Betrachtung der texthaltigen Geschichte der Denksysteme. In letzter Konsequenz jedoch steht das bildhafte Resultat im Vordergrund: Alle Reflexion verdankt sich der Freude an der Betrachtung einer dichten Auseinandersetzung im Bildnerischen.


Anselm Reyle

Wie Martin Eder folgt Anselm Reyle zunächst Andy Warhols selbst formuliertem Erfolgsgeheimnis, den Leuten zu geben, was die Leute wollen. Doch während Eder das Populäre auf seinen soziologischen Horizont abklopft, liefert es Reyle Forschungsproben für Versuchsanordnungen, mit denen er verborgene Genealogien und kulturelle Prägungen des Bildhaften nachweist.

Durch seine Betonung von Oberfläche und Effekt scheint Reyle vordergründig der einzige aus der in der Ausstellung versammelten Künstler zu sein, der nicht wirklich malt. Tatsächlich geht alles in Reyles Werk formal wie im Einzelfall technisch auf die Malerei zurück. Allerdings verbindet er die Malerei mit einer Erweiterung des Readymade-Begriffs auf Formen, Farben, Materialien, Stilrichtungen, malerische Positionen22 . Zudem erarbeitet er einen Großteil seiner Werke gemeinsam mit einem Team. Dennoch besteht er bewusst auf einer malerischen Herangehensweise als anachronistischer Haltung gegenüber der Fortschritts- und Mediengläubigkeit. Er schleust die Malerei durch die Hintertür ein und befreit sie zugleich vom Narzisstischen. Die Erschaffung eines auratischen Kunstwerks ist zwar ein wichtiger Bestandteil von Reyles Werken. Doch er legt den auraerzeugenden Prozess offen, indem er das Malerische auf die zu den Werken gehörigen Displays erweitert, etwa durch die Präsentation von Dekofolie in einem farbigen Acrylglaskasten. Malerei soll bei Reyle nicht die Einmaligkeit eines Kunstwerks markieren, sondern verschüttete bild- und kunstgeschichtliche Spuren näher bringen, denen er wie ein Archäologe mit malerischen Mitteln als teilnehmender Beobachter nachspürt, indem er sich mit Emphase mimetisch anschmiegt oder kühl ironisch distanziert.

Die industriell hergestellt wirkenden und an Minimal-Werke erinnernden Oberflächen dienen Reyle vor allem dazu, näher an die Industrialisierungsfeier der Moderne heranzuzoomen und dort das hervorzuheben, was nur haarscharf neben dem legitimen kunsthistorischen Strang moderner, womöglich minimalistischer Kunst liegt. Durch seine Arbeit fördert er nicht nur lange ungesehene Malerei-Positionen zutage wie die Farbfeldmalerei von Otto Freundlich oder die informelle Malerei von Karl Otto Goetz. Reyle legt auch das Ungesehene im viel zu viel Gesehenen und zum Klischee Gewordenen frei wie die Op-Art des zum Posterboy verkommenen Victor Vasarely oder die in der Minimal Art verwendeten Autolacke.

Reyle feiert in seiner Praxis geradezu das Primat des Bildhaften vor dem Texthaltigen und inszeniert betont die Oberflächen seiner Werke. Die Werke überwältigen fast trotzig durch ihre glamouröse Erscheinung, ihre kraftvolle Farbigkeit und ihre kaum zu ignorierende spektakuläre Objektpräsenz. Am bekanntesten wurde Reyle für seine Streifen- und Folienbilder. Erstere lassen dissonante Farben aus Dekofolien oder Spraylacken aufeinanderprallen. Daneben dehnen sich in farbigen Acrylvitrinen funkelnde Metallfolien wie zerklüftete Landschaftsreliefs aus. Neonleuchtende Wagenräder scheinen als Readymades aus einer psychedelischen Landhausstil-Dekoration zu stammen und über ihre aktualisierte Farbigkeit ihre Dekontextualisierung zu symbolisieren. Vergrößerte Repliken von afrikanischen Souvenir-Objekten schillern in metallischen Farben. Großformatige Tableaux zitieren provokant und sehr direkt die bei Jung und Alt gleichermaßen beliebte Freizeitbeschäftigung des Malens nach Zahlen. Reyle spielt auch bei seinen Materialien und Farben ebenso humorvoll wie virtuos mit Klischees: Direkt aus dem Bastelbedarf, dem Dekoshop oder vom Autotuner scheint seine Palette zu stammen. Sie umfasst neben den Neonfarben, Lacksprays und Metallfolien auch Acrylfarben, Formspiegel, Strukturpasten oder je nach Lichteinfall in allen Regenbogenfarben leuchtende Prismafarben von Industrielacken.

Und nicht umsonst ist Reyle neben den glitzernden Fassaden auch an den technisch erzeugten Materialien auf den Müllhalden, Schrottplätzen und in den Baulücken unserer Gesellschaft interessiert. An diesen vernachlässigten, verwahrlosten, vergessenen Orten findet er das dem Verfall anheim Gegebene. Ebenso wie die Momente der kunstgeschichtlichen Entwicklungen, an denen die Moderne zu schnell vorbeieilte, sind in ihnen Kohlestücke aufgehoben, die unter dem Druck der Sedimentschichten womöglich längst zu Diamanten geworden sind. Reyle hebt diese Schätze und zeigt, dass die Geschichte auch anders hätte verlaufen können, wenn er sie mit einem kostbar schillernden Überzug versieht: Seine sogenannten »Otto-Freundlich-Bilder« sind ebenso wie Reyles Assemblagen eine Hommage an die Reste und Ruinen der Zivilisation – Fragmente, die er noch nicht einmal wie romantische Sentimentalbauten neu errichten muss, sondern findet. Diese aufgespürten Fährten führt er weiter und nutzt sie wie Bauruinen, um auf sie aufzusetzen und sie mit auffällig glänzender Hülle ins Blickfeld gegenwärtiger Sehgewohnheiten zu bringen.

Reyle begibt sich dafür direkt in den Hades, in den stinkenden Schlund des Drachens und stellt sich all jenem, demgegenüber die Hochkultur und sogar er selbst Ekel hegen: Drastisch sind seine neon-orangefarbenen Grundierungen, Gelb- und Fliedertöne oder silbrigen Reptilhaut-Imitate aus Plastik, die er für seine Revision der gestischen Malerei mit malerischen Mitteln verwendet. Reyle überrascht mit dem Ergebnis, dass etwa seine Streifenbilder selbst mit der Kombination dissonantester Farbtöne eine farbkompositorische Spannung erzeugen können. Die Malen-nach-Zahlen- und Streifenbildsysteme erlauben eine stärkere Konzentration auf Farben und Materialien. Ein vergrößerter Ausschnitt daraus kommt der Abstraktion und absoluten Malerei nahe, deren Komposition nur aus Haptik, Farbklang, Dissonanzen besteht. Ähnlich nutzt Reyle Fundstücke von Flohmärkten oder im Internet ersteigerte Möbel: Farbe wird hier ohne bildhauerische Ambitionen zur Skulptur, Flächen werden auf den Raum übertragen.

Als gelungen erachtet werden diese Werke, wenn kein Strich zu viel ist und wenn Geschwindigkeit und Gestik die Balance halten auf einem inkommensurablen, nicht in diskursiver Logik aufgehenden Grad zwischen Pathos, Rationalität und Leere, der das Urteilsvermögen zwischen Ablehnung und Zustimmung hin- und herirren lässt. Ein jenseitiger, ungewohnter Reiz vielleicht, aber doch ein bildnerisches Resultat mit einer eigenen Logik. Um diese Spuren, die leicht neben den eingefahrenen Gleisen des normativ Gültigen liegen, aufzuspüren, kombinieren Reyle und sein Team manchmal monatelange Versuche mit fast somnambulen, spontanen Eingriffen. Malerische Verfahrensweisen nutzt Reyle hier als Lackmustest dafür, dass die Kategorien des legitimen Geschmacks ebenso wie Kitsch nicht auf Naturgesetzen basieren, sondern historisch gewachsene gestalterische Konventionen sind.

Mit seiner erweiterten Readymade-Praxis verweist Reyle darauf, dass die ästhetischen Konventionen der westlichen Moderne seit dem 18. Jahrhundert den Kult des schöpferisch-autonomen Genies und die Verehrung des Originals mit sich brachten. Demgegenüber kennt etwa das chinesische Denken weder den Ursprung noch die Identität eines einmaligen Ereignisses oder ein Entweder-Oder und damit auch keine Ruinen, sondern tendiert eher zu einem Sowohl-als-Auch, Hybriden und Transformationen23. Es ist durchaus üblich, dass ein Original durch eine vom Zeitgeist für besser erachtete Kopie ersetzt wird. Kopisten legen es geradezu darauf an. So zielen Shanzhai-Produkte auf transformierende Differenz statt auf Identität und setzen damit dekonstruktive Energien frei. Vor diesem Hintergrund lässt das Farbtropfen-Logo, mit dem Anselm Reyle viele seiner Bilder versieht, nach dem sie den kollektiven Arbeitsprozess seines Atelierteams durchlaufen haben, an einen ironischen Kommentar zum romantischen Ideal vom Künstlergenie und darüber hinaus an die chinesischen Siegelabdrücke auf alten Gemälden denken: Die historischen Siegel dienen nicht der Authentifizierung und damit der Unantastbarkeit der Bilder, sondern »stammen vielmehr von Kennern und Sammlern, die sich auch mit ihren Kommentaren in das Bild einschreiben«24 . Traditionell sind in China Gemälde als interaktive, kommunikative Praxis angelegt, durch die sich das Bild immer weiter entwickelt. Reyles Siegel lädt zwar nicht jeden zum Eingriff ein, deutet aber mit einem ironischen Wink den kommunikativen Raum an, den er mit seinem Team pflegt und den er mit dem Künstler Franz West für ein Kooperationsprojekt teilte25. Kunst wird zu einem geselligen, gemeinsamen Akt und bricht mit dem Klischee des autistischen Maler-Genies. Auch formal scheint Reyle dies unterstreichen zu wollen, wenn er seine Bilder flächig, aperspektivisch, asubjektiv und damit der traditionellen chinesischen Malerei ebenfalls ähnlich blicklos anlegt. Raumwirkungen erzielt er vielmehr durch Oberflächenwirkungen, Texturen und Farbkombinationen.

Reyle legt die auf den Malerfürsten verweisende Geste genauso offen wie die Macht des Kontextes White Cube, die Wirkung des Displays und den surrealen Akt, durch den ein Alltagsgegenstand zu Kunst erklärt wird. Ausgestattet mit diesen Mitteln, trägt er Teile unserer Kultur über sein malerisches Verfahren wieder ins Museum zurück, um sie zu überprüfen und die ihnen innewohnenden ästhetischen Genealogien aufzudecken.


Thomas Scheibitz

Durch eine höchst charakteristische, aus leuchtenden und matten Tönen zusammengestellte Farbpalette, eine irritierende Oszillation zwischen Zwei- und Dreidimensionalität und vor allem durch einen von ihm ermittelten bildgrammatischen Kanon zeichnen sich die Werke von Thomas Scheibitz aus. Hier oder dort meint man Fragmente von Gegenständen zu erkennen – bei genauerer Betrachtung findet sich ein verdichtet aufgesplittertes Universum verschiedenster Bildelemente. Ein Flirren stellt sich bei der Rezeption ein. Bisweilen löst das Gewebe aus Assoziationsüberfülle und Bedeutungsleerstellen eine Überforderung im Erkenntnissystem des Betrachters aus.

Thomas Scheibitz hat sich ebenso wie Michael Kunze intensiv mit dem Werk von Arno Schmidt auseinandergesetzt. Der Schriftsteller brach das epische Kontinuum in kurze Absätze auf, die Momentaufnahmen von Wahrnehmungen, Gedanken und Situationen beschreiben. Der Rezipient muss beim Lesen rekonstruieren, was zwischen diesen Fragmenten geschieht. Schmidt suchte durch diese elliptischen Auslassungen die größtmögliche Abbildungsgenauigkeit. Denn das Leben ist seiner Ansicht nach durch eine sogenannte »Perlenkette kleiner Erlebnisse« charakterisiert: »Es gibt diesen epischen Fluß, auch der Gegenwart, gar nicht; Jeder vergleiche sein eigenes beschädigtes Tagesmosaik!«26 Hier setzt Scheibitz an, wenn er die Möglichkeiten der gleichsam stillgelegten Malerei und Fotografie verhandelt, die nicht wie Film oder Musik in kontinuierlicher Folge ein Bild oder einen Ton aus dem anderen hervorgehen lassen und eine Zeitspanne festhalten können. Die filmische Erweiterung der Zeit gaukelt einen kontinuierlichen Wahrnehmungsfluss vor, den es nicht gibt und der von den unserer Wahrnehmung zugrundeliegenden Gestaltgesetzen ablenkt.

Sehr genau schaut Scheibitz daher hin, welche Prinzipien und welches Vokabular der Bildsprache eingesetzt werden. Malerei dient ihm dazu, fundamentale visuelle Ausdrucksweisen zu erarbeiten, die Grundfragen der Verbindung von Form und Inhalt kommunizierbar machen. Scheibitz nutzt die Sprache der bildenden Kunst, um rein stilistische, formale Fragestellungen zu diskutieren, die in der alltagspragmatischen Orientierung nicht funktional wären: Worin besteht eine Komposition? Welche formale Transformation wurde bei gleich bleibendem Inhalt vollzogen? Was macht das etwaige Moderne, das möglicherweise Zeitgenössische aus? Was ist im Design universell? Geht es um die Stilgeneration oder um einen Generationsstil27 ? Welche räumlichen Mittel werden in einem bestimmten Bild eingesetzt? Welcher perspektivische Ansatz ist für eine Skulptur, welcher für ein Bild angemessen?

Scheibitz tastet unseren alltäglichen Wahrnehmungsraum ab und zerlegt dessen Anordnungen in Bildelemente und noch detaillierter in Punkt, Linie, Fläche, Flächenaufteilung, Format, Raum, Platzierung, Verdichtung, Kontrast, Farbe, Pinselduktus, Strichführung, Schärfe, Modulation oder auch Zeit. Durch diesen Vorgang des Sezierens isoliert Scheibitz die syntaktische Ebene der Zeichenrealisation von der semantischen Ebene der Bedeutungen. Nachdem er die vorgängigen Verbindungen zerschnitten hat, gibt er mit den Mitteln der Malerei wieder, was er gefunden hat: Es entsteht etwas Neues, das die Spur von etwas Vorgefundenem trägt.

Das Verfahren ähnelt der Cut-up-Collage28 . Für die Neuschaffung ist es nebensächlich, ob die nach dem Zerschneiden gewonnenen Stücke nach dem Zufalls- oder einem formalen Prinzip neu zusammengesetzt werden. Entscheidender ist die von allen in der Ausstellung versammelten Künstlern behauptete mimetische Verfasstheit der Wirklichkeit selbst. Die schon existierende Sprache dient als ein kulturelles Archiv, das in seine Grundelemente zerlegt wird, um diese wiederum als Grundelemente zur Konstruktion neuer Verbindungen zu benutzen. Die Autorität der Narrationen wird unterwandert, und bis dahin ungekannte semantische wie materiale Potenziale der Elemente werden aufgedeckt. Vergleichbares gilt für digitales Soundsampling und Remix-Techniken in der Musik bis hin zur Aleatorik.

Als Maler, aber auch als Zeichner, Bildhauer und Fotograf verdichtet Scheibitz die als bereits gedeutet vorgefundenen Welten und weitet ihre bildhafte Beschaffenheit mittels seiner spezifischen Weiterentwicklung aus. Die durch seine Wahrnehmung hindurchgeflossene Grammatik des Visuellen gleicht einer instinktiven, neue Blickwinkel eröffnenden Neuformulierung, die zwischen Sinn und Nicht-Sinn die Schwebe hält und sich am Rande der Erfindung bewegt. Mimesis wird im Sinne eines nachahmenden Erzeugens zu einem Prinzip der Welterzeugung. Die Werke pendeln zwischen dem mehrdimensionalen wirklichen Raum und dem unbegrenzten Raum der Vorstellung. »Ansicht und Plan«29 gehen in dieser Wahrnehmung ineinander über. Ein Objekt oder eine Form der Alltagsrealität kann so zum Gegenstand der Spekulation werden.

Für Scheibitz’ dekonstruktives Verfahren ist es vollkommen unerheblich, ob die vorgängigen Motive aus dem Zusammenhang der Produktgestaltung, des Setdesigns, der Typografie oder der bildenden Kunst stammen. Seine analytische Sichtweise gilt der formalen Komposition und nicht der inhaltlichen Bewertung. Ganz wie Aby Warburg, der mit gleichwertiger Neugier eine Briefmarke oder ein Michelangelo-Gemälde untersuchte, betreibt Scheibitz eine unsentimentale, dem Zusammenhang gegenüber respektlose Aneignung von Bildern. Die je eigenen Bilderzeugungsprozesse dieser Kontexte nimmt Scheibitz dennoch ernst und untersucht sie ganz genau. Sein Misstrauen gegenüber scheinbar gegebenen semantischen Zusammenhängen resultiert allerdings in einer Ablehnung von Narrationen. Erzählerisches haftet allenfalls Scheibitz’ Fotografien an, die vorgeschlagene Blickwinkel oder Motivketten festlegen. Seine Skulpturen, die einer in den Raum ausgedehnten Malerei gleichen, kommen ebenso wie seine Tableaux vollkommen ohne Erzählungen aus.

Scheibitz’ bildanalytische Bilderschaffungen erzeugen eine wahrnehmungsverschiebende Wirkung, die auch beim Rezipienten der Werke den Blick auf die Erscheinungen des Alltags nachhaltig verändert und die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Die Perzeption wird so umstrukturiert, dass in der Umgebung Kompositionsgrundlagen zum Vorschein kommen, die direkt der Sprache der bildenden Kunst entnommen zu sein scheinen: Werbeanzeigen lassen sich als Stillleben lesen, gegenstandslose Welten schälen sich neben Prototypen heraus. Andere Bildvorlagen werden während der Wahrnehmung in die morphologischen Grundbausteine zerlegt: Gewachsenes reduziert sich auf die symbolhaften Konturen von Karikaturen, Logos werden zur reinen Form, und Gebautes löst sich genauso in seine tektonischen Struktur auf wie in eine »Offene Gegend«30 . Die Interpretation der Sinneseindrücke, die an und für sich disjunkte Formen hinterlassen, ist durch einen umgekehrten Effekt charakterisiert: Aus ovalen Formen konstituiert sich ein Gesicht mit Augen, oder Linien verbinden sich zu typografischen Zeichen. Scheibitz lotet aus, wie weit die Auflösung oder Dekonstruktion gehen kann, welche Perspektiven ineinander geschoben werden können, was die serielle Behandlung einer Grundform abgewinnen kann und wie sich gebaute Formen mit amorphen Strukturen kreuzen lassen. Und einem Virus gleich dringt diese Perspektive des Künstlers in die Wahrnehmung des Betrachters und dessen eigene Welt ein.

Aber obwohl diese Resultate gerade durch Malerei und ihre Möglichkeiten erzielt werden, gibt es in allen Werken von Scheibitz eine stets mitlaufende Spur, die die Grenzlinie der Malerei und der Fotografie zum Film markiert und von einer Sehnsucht nach dem Filmischen spricht. In Bezug auf die Zeitförmigkeit ist die Malerei ebenso wie die Fotografie »ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie); sie besitzt nicht den geringsten Drang nach vorne, indes der Film weiterstrebt und somit nichts Melancholisches hat«31 . Die Malerei fließt von der Darstellung zurück zur Bewahrung und erhebt damit einen Anspruch auf ihre Wirklichkeit, den Scheibitz in letzter Konsequenz als ideologisch ablehnen könnte.

Indessen liegt in der Non-Linearität gerade eine Stärke der Malerei: Das Auge des Betrachters kann seinem eigenen Tempo folgend die Oberfläche abtasten. Zudem sind Scheibitz’ Werke immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Material, seinen Äußerungsdimensionen und dem darin eingeschriebenen Werkprozess. Über Pinselduktus und Farbschichten schreiben sich das Ringen um Ausdruck und Assoziationsketten ein. Im Akt des Sichtbarmachens materialisiert sich die mediale Spur vielfältiger Reflexionsprozesse eines Wissens im Entwurf, das Wirklichkeit in einem Akt des »Darstellungshandelns«32 hervorbringt. Und genau deshalb schätzt Scheibitz an der Malerei die gegenüber dem Film relative Unabhängigkeit des Mediums und ihre Eignung, Erfahrungen, Eindrücke und Überlegungen direkt neu anzuordnen.


Malerei

Trotz aller unterschiedlichen Herangehensweisen und Relativierung des Medium sind alle vier Künstler Maler. Nur über das Malen können sie ihren je spezifischen Fragestellungen nachgehen. Sie betreiben Malerei wie John Constable als Praxistheorie: »Die Malerei ist eine Wissenschaft, eine Erforschung von Naturgesetzen und sollte als eine solche betrieben werden. Warum also kann man nicht auch die Landschaftsmalerei als einen Zweig der Naturphilosophie ansehen und die einzelnen Bilder als Experimente?«33 Die Experimente der hier versammelten Künstler sind jedoch keine Experimente einer Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern einer interpretierenden, die Bedeutungen und Entwicklungen von gesellschaftlichen Ausdrucksformen erforscht. Die Experimente erfolgen auch nicht als am Paradigma der illusionistischen Malerei orientierte Bildkunst und noch nicht einmal zwangsläufig im Rahmen der Paradigmen, mithilfe derer malerische Praktiken im Allgemeinen traditionell untersucht wurden34 . Die Experimente erfolgen als Malerei, aber auch als »Painting beside itself«35 in einem erweiterten Verständnis von Malerei und vor dem Hintergrund unterschiedlichster Weisen der Welterschließung.


Neues?

Abgesehen davon, ob man Kunstwerke als Weisen der Welterzeugung36 versteht oder nicht, werten alle in der Ausstellung vertretenen Künstler mit dem als anachronistisch geltenden Medium der Malerei auf die eine oder andere Weise bisher als wertlos Erachtetes zu etwas Wertvollem auf37 . Diese Transformation von Sichtweisen vollzieht sich nicht durch eine bloß in das Kunstwerk hineingelegte Haltung. Sie erfolgt vielmehr experimentell »über die Erforschung des Wechselspiels von Darstellung und Darstellungsweise«38 und eine »Verschiebung von Bedeutung«39 . Die Revisionen und Verarbeitungen des Kunstbegriffs, der Geschichte und künstlerischer Vorgängerpositionen sind bei allen vieren Teil einer künstlerischen Praxis, bei der Fortschritt nicht auf einen Endpunkt hin gedacht ist, sondern auf Transformation beruht – mit einer Ästhetik der Drastik, die der Zeitgenossenschaft verpflichtet ist und zugleich auf Zeitlosigkeit zielt.


Anerkennung, Wertschätzung und Respekt

Gemeinsam ist den vier Künstlern, dass ihre jeweiligen mimetischen Methoden auf »unsinnlicher Ähnlichkeit«40 basieren: Sie verweisen auf Korrespondenzen, Homologien und Isomorphien, die den sinnlichen Erscheinungsformen nicht immer unbedingt ablesbar, ihnen jedoch eingeschrieben sind. Diese mimetische Nachahmung gemäß des Ansatzes von Walter Benjamin oder der hermeneutischen Anthropologie von Clifford Geertz reduziert das Gegenüber nicht, sondern nähert sich ihm als Anerkennung des anderen durch eine Nachahmung, die das Potenzial enthält, Nähe herzustellen, ohne zu verstehen (im Sinne einer Interpretation) oder misszuverstehen. Diese Anerkennung zeugt von Respekt und drückt eine Wertschätzung aus, die auch die Basis und Motivation für die Ausstellung bilden.41




[1] Vgl. Experimentelle Ästhetik. VIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik 2011 (Kongress-Akten der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Bd. 2), hg. von Ludger Schwarte, 2011, unter: http://www.dgae.de/kongress-akten-band-2.html, S. 11 (abgerufen am 10.06.2013).

[2] Vgl. u.a.: Ruins, hg. v. Brian Dillon, Canterbury 2011; Anna-Catharina Gebbers und Stefanie Gerke, „Beate Gütschow“, in: Lost Places – Orte der Photographie (anlässlich der Ausstellung Lost Places – Orte der Photographie, Hamburger Kunsthalle, 8. Juni bis 23. September 2012), hg. von Hubertus Gaßner und Petra Roettig, Heidelberg 2012, S. 44–49; Stefanie Gerke, Die zeitgenössische Ruine. Nachkriegsarchitektur und die Ästhetik des Abbruchs im fotografischen Medium (Arbeitstitel), Promotionsschrift, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin voraussichtl. 2015.

[3] Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt am Main 2007 S. 138

[4] Ebd., S. 137

[5] Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main 1990, S. 87.

[6] »Hermeneutik geht auf das, was nicht nur je einen Sinn haben und preisgeben soll und für alle Zeiten behalten kann, sondern was gerade wegen seiner Vieldeutigkeit seine Auslegungen in seine Bedeutung aufnimmt. Sie unterstellt ihrem Gegenstand, sich durch ständig neue Auslegung anzureichern, so daß er seine geschichtliche Wirklichkeit geradezu darin hat, neue Lesarten anzunehmen, neue Interpretationen zu tragen.« Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981, S. 21.

[7] Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1999.

[8] Walter Benjamin, »Lehre vom Ähnlichen« (1933), in: Gesammelte Schriften II, Bd. 1, Frankfurt am Main 1985, S. 207ff.

[9] Vgl. Goodman 1990 (wie Anm. 5), S. 91.

[10] Vgl. Gunter Gebauer und Christoph Wulf, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 9–40.

[11] GNTM, Germany’s Next Topmodel: Deutsche Model-Castingshow im Reality-TV-Format, ProSieben, seit 2006.

[12] documenta X, Rahmenprogramm der Ausstellung, Kassel 1997.

[13] Isabelle Graw, »Das Versprechen der Malerei. Anmerkungen zu Medienunspezifik, Indexikalität und Wert«, in: Über Malerei. Eine Diskussion, hg. von Isabelle Graw und Peter Greimer, Berlin 2012, S. 22.

[14] Vgl. Wolfgang Palaver, »René Girards mimetische Theorie im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen«, in: Beiträge zur mimetischen Theorie. 3. Aufl., Bd. 6, Berlin u.a. 2008, S. 88. Søren Kierkegaard, Christian Discourses, übers. v. Walter Lowrie, Princeton 1971, S. 42.

[15] Martin Eder. Der dunkle Grund, hg. von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden u. Galerie EIGEN + ART, Köln 2009.

[16] »Das schlimmste, schmutzigste von allen Dingen, / Die Qual, die nicht Gebärde hat noch Schrei, / Und doch die Erde macht zur Wüstenei / Und gähnend wird dereinst die Welt verschlingen: Der Überdruss!« Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, übers. von Terese Robinson, München 1925, unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1361/1 (abgerufen am 10.06.13).

[17] Vgl. Peter Weiss, Die Ästhetik der Widerstands, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2005.

[18] Jacques Derrida, „Marx, das ist Jemand“, in: Zäsuren 1, 2000, S. 58–70.

[19] Vgl. Sianne Ngai, Ugly Feelings, Cambridge, Massachusetts 2005; dies., Our Aesthetic Categories: Zany, Cute, Interesting, Camridge, Massachusetts und London, England 2012.

[20] Jean-Luc Godard (Regie und Drehbuch), Le Mépris (Die Verachtung), Farbe, Ton, 102 Min., Frankreich 1963.

[21] Ferdinand Tönnies, 1905–1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker. Strafrechtsreform. Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht. Schriften. Rezensionen, Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, hg. von Arno Bammé und Rolf Fechner, Berlin und New York 2009, Bd. 7, S. 205.

[22] Reyles mimetisches Verfahren entspricht nicht der Appropriation Art, sondern eher dem Mashup-Prinzip und seinem erweiterten Readymade-Begriff der Zuspitzung: Er adoptiert gleichzeitig gegenläufige Genres wie Minimal, Informel, Op-Art oder Hardedge genauso wie Malen-nach-Zahlen-Bildsysteme oder Landhausstil-Dekors als formal zugespitze Readymades. Er gibt ihre formale Sprache durch Eins-zu-Eins-Übernahmen, Vergrößerungen oder Zitate mittels Materialien und Farben effektvoll wieder, die er als aus der Warenwelt stammend ebenfalls wie Readymades auffasst. Mit dieser Wiedergabe befreit er seine Fundstücke von historischen Datierungen und kulturellen Vorurteilen, um sie für eine Weiterentwicklung zu öffnen. Konsequent führt er diesen Gedanken weiter: Reyles an den Memphis-Stil angelehnte Sofas oder seine Taschenkreationen für Dior überführen seine Werke als reciprocal readymades in den Alltag und setzen sie dem Geschmacksurteil der Konsumentenschaft aus. Aus der mimetischen Affirmation des Wunsches nach dem Sofa-Bild oder der distinktionstauglichen It-Bag wird so ein Test für die Transformationsfähigkeit und letzten Endes auch Klischeetauglichkeit der eigenen Werke.

[23] Vgl. Byung-Chul Han, Shanzhai 山寨. Dekonstruktion auf Chinesisch, Berlin 2011.

[24] Ebd., S. 44.

[25] Ausstellungen der in Langzeitkollaboration entstandenen Werke u.a.: Anselm Reyle, Anselm Reyle Feat. Franz West, Almine Rech Gallery, Paris, 9. September bis 15. Oktober 2011; Anselm Reyle und Franz West, Stolen Fantasy, Schinkel Pavillon, Berlin, 24. März bis 22. April 2012.

[26] Arno Schmidt, „Berechnungen I“, in: Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts, hg. v. d. Arno Schmidt Stiftung, Werkgruppe 3, Bd. 3, Zürich 1995, S. 167f.

[27] Vgl. Robert Musil, »Stilgeneration oder Generationsstil«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 7, 2. verb. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 664–667.

[28] Die vom dadaistischen Schriftsteller Tristan Tzara erstmals in den 1920er-Jahren verwendete Methode wurde als Cut Up in den 1950er-Jahren von den Schriftstellern Brion Gysin und William Burroughs wieder aufgenommen und erneut bekannt: Zufällig ausgewählte Worte oder auseinandergeschnittene Textstreifen werden aneinandergereiht und aus ihrem Klang oder ihren Wortfolgen Sprachgebilde unabhängig von ihrer ursprünglichen Bedeutung erschaffen.

[29] Thomas Scheibitz, Ansicht und Plan von Toledo, Museum der Bildenden Künste Leipzig, Ausstellung, 10. Mai bis 22. Juli 2001.

[30] Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3, Hamburg 1948ff., S. 333–336.

[31] Roland Barthes, Die helle Kammer(, Frankfurt am Main 1989, S. 100.

[32] Vgl. Peter Sachse, Idea materialis: Entwurfsdenken und Darstellungshandeln. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Skizzieren und Modellieren, Berlin 2002.

[33] John Constable in seiner vierten Vorlesung in der Royal Institution (1836), zit. nach Ernst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, übers. v. Lisbeth Gombrich, 3. Aufl. der 6. dt. Ausg., Berlin 2010, S. 29.

[34] »Farbe und Kontur, Transparenz und Opazität, Geste und Faktur, Illusionismus und Flachheit, Schein und Objekthaftigkeit, Chroma und Kontrast, Zufall und Komposition, Markierung und Monochromie, zur Schau gestellte Virtuosität und anonyme Ausführung, Figuration und Abstraktion«. André Rottmann, „Einführende Überlegungen zur Beharrlichkeit der zeitgenössischen Malerei«, in: Graw und Greimer 2012, (wie Anm. 11), S. 7.

[35] David Joselit, »Painting Beside Itself«, in: October 130, (Herbst) 2009, S. 134.

[36] Vgl. Goodman 1990 (wie Anm. 5).

[37] Vgl. Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt am Main 1999.

[38] Katharina Bahlmann, »Das künstlerische Experiment zwischen Fortschritt und Wiederholung«, in: Schwarte 2011 (wie Anm. 1).

[39] Ebd., S. 13.

[40] Benjamin JAHR (wie Anm. 3).

[41] Vgl. zum Zusammenhang von Wertschätzung und Anerkennung: Axel Honneth, »Soziale Anerkennung«, in: Wert-Schätzung, hg. von Anna-Catharina Gebbers, Nürnberg 2010, S. 58–71; Anna-Catharina Gebbers, »Wert-Schätzung«, in: ebd.., S. 72–87.