Acht Stunden sind kein Tag
Michael Kunzes Bild- und Textsysteme über Arbeit, Zeit, Geschichte und Kunst.
"Ein erwerbsloser Idealist verfällt in Abwesenheit, kommt auf dem Arbeitsamt zu sich und stattet den Raum seiner geschenkten Existenz mit illusionistischen Wandmalereien aus. Um anschliessend sein Werk zu überblicken, baut er sich einen Hochstand, von dem aus als perspektivisches Zentrum des Raumes ein Knick im Horizont erscheint. Dieser Knick ist die Bildmitte, auf die der Diener seiner selbst nach dem Motto l'état c'est moi zufliegen möchte. (...) " Die lakonische Beschreibung eines außergewöhnlichen künstlerischen Initiationsritus' steht am Anfang von "Und heute", einem der zahlreichen Texte, die auf die für Michael Kunze typische verklausuliert-distanzierte Art und Weise dessen Malerei begleiten. Gewiss handelt es sich bei Kunzes Texten nicht um die schriftliche Abfassung von künstlerischen Programmen, die im Sinne einer die malerische Praxis ergänzende Theorie gelesen werden kšnnen. Die Texte sind den Bildern vielmehr künstlerisch gleichrangig, entstehen parallel, kreisen teilweise um dieselben Motive, nehmen wie die Bilder in weit ausholenden Zusammenhängen nicht hinterfragbare Setzungen vor, sind somit grundsätzlich interpretierbar gehalten und ähneln darin den mit einer Fülle von anschaulichen Details operierenden Gemälden. Die Lektüre der Texte bietet dennoch einen wichtigen Zugewinn zum Verständnis der Bilder, da sich aus ihnen Themen und Motive, vor allem aber Intentionen herauslesen lassen, die für Michael Kunzes bewußt verrätselnde künstlerische Arbeit wichtig erscheinen. So heißt es in "Und heute" in Bezug auf den angesichts der hermetischen Bilddispositionen leicht ratlosen Rezipienten: "Wo der naive Betrachter zurückbleibt und nicht mehr weiterkommt, weil auch er eigentlich fliegen möchte, muß er versuchen, wenigstens zu springen." Deutlich kommt hier die geforderte Bereitschaft zu Gedankensprüngen, zu flexiblem Denken, zur freien Assoziation zum Ausdruck, -und damit etwas, was die Kunst seit langem und immer wieder neu und im Verlauf der Jahrhunderte immer stärker von ihrem Publikum gefordert hat. Bildende Kunst war ja nie an nur eindeutigen Aussagen interessiert, sondern operierte immer in jenem schillerndem Zwischenreich aus anschaulich gemachter Bedeutung und Bedeutungsverweigerung. Michael Kunzes mit einer Überfülle an Information aufwartende Arbeiten erfordern einen agilen Wechsel der Blickperspektiven in besonderem Maße. Möchte man nicht den Wald vor lauter Bäumen übersehen, empfiehlt sich tatsächlich der Blick vom angesprochenen Hochstand auf das gesamte Werk aus Bildern und Texten, um die Bezüge zwischen dem Ganzen und seinen Teilen sowie zwischen den Bildern und Texten in ihrer komplexen Totalität zu sehen. So sind etwa mit dem leicht als Künstler auszumachenden "erwerbslosen Idealisten", der utopischerweise durch das soziale Netz des Arbeitsamtes aufgefangen wird, zum einen Hinweise auf eine Grundhaltung der künstlerischen Arbeiten gesetzt, die weitaus existenzieller geprägt ist, als es Kunzes nostalgisch, spielerisch, surreal und oft kryptisch erscheinende Gemälde glauben machen. Zum anderen erzielt der Text mit dem abrupten Nebeneinander von, um es knapp zu sagen, Traum (der in Abwesenheit verfallene Idealist) und Realität (Arbeitsamt) eben jene Vermischung von kryptisch-surrealer und unumwunden trivial-alltäglicher Anmutung, welche die Bilder ebenfalls kennzeichnen. Bedeutung generiert sich insofern vor der Interpretation einzelner Bildzeichen aus dem Gefüge des Gesamten: "Eine hermetische Welt der Entwürfe und virtuellen Planspiele steht einer hermetisch gewordenen Welt gegenüber", heißt es in "Platon und Pop im Nadelöhr", einem bislang nicht edierten Text des Künstlers.
Mit ihrem Anspruch auf Vervollkommnung des Virtuellen erscheint Michael Kunzes künstlerische Arbeit wie ein Planspiel für eine Kunst nach der Entzauberung des Kunstbegriffs. Dabei geht Kunzes Entzauberungsarbeit nicht mehr den in den 60er Jahren beschrittenen Weg über den "Ausstieg aus dem Bild", sondern es findet im Gegenteil ein tiefer Einstieg in die abendländische Bildgeschichte statt. Sorgfältig wird das verfügbare Material analysiert, wobei vor allem die von der Moderne mit ihrem Hang zu Autonomie und Selbstreferentialität übergangene Malereigeschichte der Vormoderne auf ihre Tauglichkeit überprüft wird. Die anachronistisch wirkenden Rückgriffe auf einen altmeisterlichen Look von Malerei stehen dabei in engster Verbindung zu den technischen Möglichkeiten neuester 3D-Programme, mit denen sich am Computer realistisch wirkende, virtuelle Settings kreieren lassen. Die "illusionistischen Wandgemälde", mit denen sich der "erwerbslose Idealist" umgibt, sind solche orbits of fantasy, sie entwerfen das mit Bilddaten angereicherte Panorama einer nicht selbstreferentiellen Malerei, die gleichzeitig auf ihre Wurzeln zurückblickt und nach vorne orientiert ist. Unternommen wird, wie Kunze an anderer Stelle schreibt, "ein pantheistisch gestimmter Reanimationsversuch", wobei die in der Moderne liegengebliebenen Stränge der Malerei wie Illusionismus, narrative und rhetorische Qualitäten oder theatralische Präsenz wieder aufgenommen und weiter entwickelt werden. Betrachtet man Michael Kunzes Bilder nicht als mögliche Abbilder eines Realen, sondern als strukturierte Zeichensysteme, so läßt sich zunächst über sie sagen, dass sie etwas zur Anschauung bringen, was man so noch nicht gesehen hat, obwohl einen gleichzeitig beständig ein gewisses Déjà-Vu-Gefühl beschleicht. Kunzes Vorgehen ähnelt damit dem zur Zeit von manchen KünstlerInnen unternommenen Versuch einer kritischen Revision historischen Materials. So wie Ivan Morley, Corinne Wasmuth, Jan van Imschoot oder John Currin, um nur einige der aktuellen malerischen Positionen zu nennen, geht es auch Michael Kunze um das Austesten von vermeintlich überkommenen Techniken und Bildmaterialien, um eine Befragung von deren heutiger Aktualität. Dahinter steht, dass tatsächlich fast das gesamte kritische Vokabular, das entwickelt worden war, um mit moderner Malerei umzugehen, seine Relevanz für die ihr nachfolgende Malerei verloren hat. Eine nachhaltige Erweiterung des Verständnisses vom Malerischen war die notwendige Folge, und es ist nicht verwunderlich, dass zur adäquaten Beschreibung dieser Malerei sich konsequenterweise Kriterien aus anderen künstlerischen Sparten anbieten, aus Fotografie, Film, Installationskunst, Performance bis hin zu digitalen Bildtechniken, aber auch Kriterien aus Literatur, Sprachkritik, Archäologie und Philosophie. Über Malerei nicht in Kategorien des Mediums Malerei zu sprechen, wäre insofern ein erster Schritt, um zu einem mythenbereinigten Verständnis von Bildern und damit zu den in ihnen verhandelten Themen zu gelangen.
Was Michael Kunze betrifft, sind diese Themen nicht auf den ersten Blick evident, es läßt sich aber mit den Begriffen Arbeit, Zeit, Geschichte so etwas wie ein Motivkreis benennen, um den die Bilder, die Texte und die Fotografien arrangiert sind. Die eingefrorenen Handlungen der Darsteller in den vielfach wie Ausgrabungsstätten wirkenden Landschaften, die zahlreichen Hinweise auf verlassene Baustellen in Form von Kränen, Absperrbändern, Betonmischmaschinen etc. erzeugen den Eindruck einer Welt, in der eine einstmals dynamische Geschichte zum Stillstand gekommen ist. Dabei wird die Konstruiertheit der Szenarien zusätzlich von einem gedanklichen Konstrukt überlagert, das den künstlerischen Ansatz und alles, was aus diesem folgt, nahezu lückenlos umschließt, womit man noch einmal bei der Empfehlung des Blicks vom Hochstand aus angelangt wäre. Michael Kunze selbst bezeichnet sein künstlerisches Projekt als "Schilderung eines idealisierten lebenslänglichen Arbeitstages". Herausgehoben aus der Malereiproduktion sind großformatige Gemälde mit Titeln wie "Morgen", "Vormittag" oder "Mittag", Bilder mit durchaus programmatischem Charakter für Kunzes Schilderungen. Bezeichnenderweise bedeutet das ursprünglich niederländische Wort "Schildern" Malen, und zwar jenes mimetisch deskriptive Malen, das in der holländischen Kunst des 17. Jahrhunderts zur Perfektion entwickelt wurde. Mit dem Rückgriff auf das niederländische Schildern gerät Michael Kunzes Malerei in die Nähe von Beschreibung und Berichterstattung. Das läßt sich an den detailreich ausformulierten Gemälden leicht nachvollziehen, auch wenn hier nicht das Reale der Gegenstand der Schilderung ist, sondern ein imaginiertes Reales, das zudem Teil einer komplexen Systematik ist. Denn die Entstehung der Bilder folgt einem eigenständigen und vorgefassten Plan, in den sich Bild um Bild allmählich einpasst, um möglicherweise -denn genau wird man das erst nach Vollendung des Arbeitstages beurteilen können- komplett mit dem Plan zur Deckung zu kommen. Die Einteilung der fortschreitenden Bildproduktion in Tageszeiten verläuft nämlich parallel zur Laufbahn des Künstlers, parallel zu dessen Lebenszeit in der Geschichte, dabei aber gänzlich widerständig zu den jeweils herrschenden Trends in der Malerei: So entstand in den Jahren von 1989 bis 1992 der mit 6 x 6 m monumentale, flächig ornamentale und überaus feinziseliert gemalte "Morgen", ein dezidierter Gegenentwurf zu der in jener Zeit noch nachklingenden neo-expressiven Malerei. Es folgte die Arbeit an dem aus drei Tafeln bestehenden "Vormittag", einem nahezu altmeisterlichen Prospekt mit vielen Figuren, der im Jahr 1995, als sich vielerorts das Narrative in der Kunst wieder die Bahn zu brechen begann, beendet war. 1997 setzte die Serie der szenischen Mittagsbilder ein, die 2001 mit dem "Achten Mittag" abgeschlossen ist, als mit dem 40. Geburtstag des Künstlers auch lebenszyklisch so etwas wie der Zenit erreicht ist. Folgen werden, so sieht es das Konzept vor, der Nachmittag und der Abend. Die Nacht hingegen bleibt ausgespart, da sie in sämtlichen Tageszeiten bereits virtuell enthalten ist. Mit dem konsequent durchgehaltenen Ausscheren aus dem biologistischen Entwicklungsmodell von Enstehen-Reife-Verfall, das sich seit der Renaissance dauerhaft etabliert hat, inszeniert der Künstler sich und sein Werk im Sinne einer straffen Selbstorganisation und überlässt sich dabei doch zur Gänze dem objektiven Lauf der Zeit. Selbstermächtigung und Selbstdistanz halten sich dabei die Waage. Hinzu kommt: Die Entwicklung der Bilder verläuft nicht nur parallel zur eigenen Lebensentwicklung, sondern offenbart sich zudem als Nachvollzug einer malereigeschichtlichen Entwicklung, wie sie die westliche Kunstgeschichte lehrt. So bildet ein byzantinisch-dekorativer "Morgen" den Anfang, es folgt mit dem "Vormittag" eine die Renaissance-Errungenschaften wie Perspektive und Illusionismus demonstrierende Tafel, während die acht Mittagsbilder das Spektrum der Historienmalerei vom 16. bis ins 19. Jahrhundert mit seinen Sonderformen Interieur, Nachtstück, Genre zitieren. Ergänzt wird Michael Kunzes Modell eines transhistorischen Streifzuges durch die Malereigeschichte von dezidiert zeitgenössischen Elementen in den Bildern, was sich vor allem in der Kleidung der Darsteller, im Einfügen einer Textzeile aus einem Frank Zappa-Song oder in den schäbigen, sich in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nahezu epidemisch ausbreitenden weißen Gartenzelten zeigt.
Das Redigieren der eigenen Geschichte vor dem Hintergrund der Vergangenheit zielt bei Michael Kunze jedoch nicht auf eine postmoderne Verflüssigung von Sinn oder Subjekt, sondern letztlich auf neu zu denkende autonome Formen der Selbstbestimmung und Reflexion ab: "Obwohl der Anspruch, das Ganze zu verstehen, nur noch spielerisch vertreten werden kann", so Michael Kunze, "zeigt sich die Frage nach der Intention dessen, was die konzentrierte Gegenwart im Vielen vergehen läßt, umso hartnäckiger. Weil aber die zu vermutende Intention noch nichts über die Faßbarkeit des Gegebenen aussagen kann, entstehen szenische Konstellationen, in denen sich Sprache ausruht, vergißt, neu entsteht (...)." So besehen nehmen sich Kunzes Bilder wie Schilderungen von kunstvoll heraufbeschworenen Ruhepausen in der Geschichte der Kunst aus, in denen sich gewissermaßen das Energiepotential künstlerischer Arbeit durch eigenmächtige Setzungen neu strukturiert. "Je weniger dann der Begriff einer notierten Geste nahekommen kann, desto unmittelbarer, hermetischer und durch alle Manierismen hindurch totalitärer wird das tatsächlich Intendierte der Handlung. Angesicht eines Netzes, das nicht ohne Hintergedanken unter dem Trapezseil gespannt sein kann, wird die Bereitschaft, scheinbar ohne Absicht in riskanter Höhe fortzuschreiten, zum Thema des ganzen Seilaktes. Und nichts, vom festgefrorenen Trommelwirbel bis zur Notausgangslampe des Publikumsraumes ist noch ohne Netz denkbar, das von Knoten zu Knoten in alle Richtungen weist." Unter Rückgriff auf das von Deleuze/Guattari beschriebene rhizomatische Denken, aber auch im Sinne von konstruktivistischen systemischen Entwürfen können sich aus der Komplexität des Gegebenen allmählich andere Kategorien für Arbeit, Zeit, Geschichte und Kunst entwickeln.
Gibt's mich wirklich, Vier Räume aus der Sammlung Schürmann, K 21, Kunstsammlung Nordrhein-Westphalen, 2003
Texte ohne Verben, Köln 2002, S. 35