Der Mensch in der Revolte
oder
Eine seltsame, leicht ins Melancholische driftende Sperrigkeit
Camus wusste es besser. 1913 wurde er geboren. Da waren
Picassos Fräuleins aus Avignon bereits sechs Jahre alt und hatten
noch einiges an Extase und Askese vor sich, bis sie schließlich
dem 25-jährigen Picasso ebenbürtig – also in Lebensgröße
– lasziv scheinend gegenüberstanden. Lebensgröße, wer hat die
schon, oder was ist das genau? Früher bekam man solche im
Alter, doch dies ist jenen Demoiselles wie ein Fluch verwehrt.
Camus wusste es besser, überhöht auf einem Rundbogen römischen
Ursprungs im algerischen Tipasa stehend und bereits über
die Verbindung von Hellenismus und Christentum grübelnd, dem
Boden verbunden und dem Himmel zugewandt. Drei Jahre vor
seiner Rückkehr nach Frankreich, im Kriegsjahr 1940, kaufte das
Museum of Modern Art in New York die Fräuleins von Avignon
einem Pariser Händler für 24.000 Dollar ab. Die Ausgewanderten
und der Eingewanderte sind sich demnach im Heimatland nicht
begegnet. Folgen wir den Wegen einer anderen, (frei nach
Camus) fremden Gnosis, die Ende des 19. Jahrhunderts als Götterdämmerung
begann, um sich dann langsam, aber nachdrücklich
in den Utopien des 20. Jahrhunderts als eine Subversion des
Subversiven bemerkbar zu machen. Der Berliner Maler Michael
Kunze präsentiert uns mit seinen Les Messieurs d’Avignon dunkle
Gestalten in dunklen Bildern, gnostische Querdenker als Denker
des Anderen und gleichwohl Erkenntnisgläubige, böse Buben der
Moderne, einsame Gestalten. Männer allesamt, denen nach Horkheimer/
Adorno und Herbert Marcuse das »negative Denken« als
die endgültige Form Hegelscher Dialektik eingeschrieben ist:
»Das Abwesende muss präsent gemacht werden, weil der größte
Teil der Wahrheit in dem steckt, was abwesend ist.«1
Intensivierung der Teilhabe. »Die exponiert sich vorwagenden,
dem Anschein nach ihrem Untergang entgegeneilenden
Werke pflegen bessere Chancen des Überlebens zu haben als die,
welche um des Idols der Sicherheit willen ihren Zeitkern aussparen
[…]. Denkbar, heute vielleicht gefordert sind Werke, die durch
ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem
Augenblick der Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos
untergehen, ohne dass sie das im geringsten minderte. Die Noblesse
einer solchen Verhaltensweise wäre der Kunst nicht unwürdig,
nachdem ihr Edles zur Attitüde und zur Ideologie verkam.«2
Adornos prätentiöser Verweis auf die Nichtigkeit des Edlen darf
uns nicht hemmen. Artaud und Bacon blicken uns düster an,
Buñuel vor Malewitsch, de Chirico im Lorbeer und nach Dali greifend,
ein stolzer Heidegger, Ernst Jünger mit Steckenpferd nebst
Kafka, Majakowski beinah ein Selbstporträt, Spenglers leeres
Zimmer durchwoben von vagen Kraftlinien, Trier im Rudel mit
tierischem Ernst und Stoffer, die Geschichte geht weiter ... Eine
neuartige, revolutionäre, aber auch geliehene Bilderwelt bemächtigt
sich unserer visuellen Domäne. In der Sehnsucht nach angehaltener
Zeit, im Sog der Melancholie steht die Malerei – wenn
sie sich denn ernst nimmt – mit ihrem energetisch aufgeladenen
Rezeptionsraum unangefochten vorne. Peter Sloterdijk beschreibt
Vergleichbares. Denn es ist gleichwohl fraglich, ob die verfolgte
Absicht, dass die kontemplative »mentale« Kunstrezeption der
Kunstproduktion (und ihrem »realen« ästhetischen Handeln) in
ihrer Autonomie möglichst weitgehend entspreche, heute so
noch erreichbar ist. In unserem medialen Zeitalter muss Selbständigkeit
und Selbstbestimmung nach Sloterdijk ganz neu als »Intensivierung
der Teilhabe« gedacht werden. Daraus lässt sich mit
Michael Lingner folgern, dass an die Stelle der in der Kunst bisher
vorherrschenden Rezeptionsform des konsumptiv gewordenen
ästhetischen Erlebens nun das aktive ästhetische Handeln und
eine Realisierungsperspektive zu treten haben.3 Das bedeutet
konkret: Kunstwerke, insbesondere Gemälde, sind weniger die
Software des Kunstsystems oder als Medienerzieher brauchbar.
Oberflächen sind zu leicht austauschbar. In der Malerei liegt, das
machen die Gemälde von Michael Kunze überdeutlich, ein Risiko,
dessen Mut, sich etwas zu trauen, der Welt mit Idol(atrie) und
Verve gegenübertritt.
Appropriation als Empathie. Der Wesenszug der Empathie,
verstanden als leidenschaftliche Beziehung, die vornehmlich
ein auf der Gefühlsebene intuitives, emotionales oder physisches
Begreifen meint, ist markantes Signum »teilhabender« Bildproduktion
und ein ambiguitives, gleichwohl marketingrelevantes,
werbeästhetisch wirksames Element. Einem analytischen Wissenschaftler
muss es durch die methodische Vorgehensweise
(absichtlich) verborgen bleiben. Einem aufmerksamen Kunstbetrachter
kann es aber die Augen öffnen – was zumeist Erkenntnisgewinn
meint – im Prozess eines Wahrnehmens von Abwesenheit.
Michael Kunze beginnt über die verlorenen Kunden der Fräuleins
aus Avignon, einem Studenten und Matrosen, einen Diskurs
mittels der Malerei, der am Scheideweg der Moderne zwischen
Cezanne und Böcklin steht. Ganz so wie es Sloterdijk in »Zorn und
Zeit« versucht,4 hat neben dem Zorn der Widerspruch eine neue
Zeit vor sich. Hier haben die Abwehrreaktionen des Selbst ihre
Heimstätte, wo sie als die Ahnen aller Negativität, aller Revolte
und allen Widerspruchs (vom paradoxen bis zum dialektischen)
der Versuchung des Zorns mit thymotischer Kraftentfaltung nachgeben.
Die Schöpfung wird so zur Katastrophe – wie im Autowrack
Camus´– die die Erlösung oder Repräsentation zu einer
hoffnungslosen Sache machen. Ein starker Maler jedoch darf
keine Angst haben vor solcher Repräsentation, denn er tritt nicht
dem Universum, sondern den Vorläufern entgegen. Es geht um
Geschichte, Schöpfungsgeschichte, Teilhabe als Fortschreiben
der Gnosis. Und wenn die Vorläufer nicht überwunden werden
können, so lässt sich ihnen doch ein Waffenstillstand abringen.
Schauen wir auf Camus, wie er auf dem antiken Ruinenbogen
dem Himmel nah, doch abgewandt, den algerischen Zorn
verspürend in lässiger und zugleich strammer Haltung seinen
R/Hauch uns entgegen bläst. Gegenwind und Widerspruch sind
der Welt Motor, so wie Repräsentation die ästhetische Übersetzung
für eine Reintegration oder Läuterung ist – Repräsentation
ist Besserungsprozess. Diese Art der Restitution stärkt das Denken
fast wörtlich zum Ge-Denken. Die Illusion im Bild jedoch
verstärkt als Produkt des Geistes die Überlegenheit seiner eigenen
Macht über all dem, was nicht Geist ist, einschließlich des
Bildes.
Michael Kunze wandelt zwischen den Welten und in der
Historie. Seine Gemälde sind Weltrevolutionen der Seele, ein
Bilder- und Lesebuch der Gnosis,5 durch die das Alte und Neue
Testament der nie geschriebenen Moderne geöffnet werden
kann. Von Antonioni bis Weininger, vom fotografischen Blow Up
im Swinging London bis zum Selbstmord in Beethovens Sterbehaus
in Wien – vier Jahre vor der Geburt der Fräuleins wohlgemerkt
– in der Nachbarschaft des Über-Ich und vor einem prägnant
musikalischen Hintergrund spannt sich ein transhistorischer
Bogen, auf dem ungerechterweise Camus immer noch seine
letzte Zigarette genießt. Ein wenig erinnert das auch an Lippenstiftspuren.6
Doch sowohl die Musik als auch die Erotik sind abwesend,
oder letztere existiert zum Ende und im Sinne Weiningers
nur als platonische Liebe. Die Schönheit der Frau, besser
die »Natur der weiblichen Schönheit ist performativ, das heißt,
es ist die Liebe des Mannes, welche die Schönheit der Frau erschafft.
«7 So muss auch Picasso gedacht haben. Und die Vor-
Raphaeliten im Sinne der christlichen Erneuerung, bei denen sich
als paradoxer Grenzfall in der Kunstgeschichte die Avantgarde mit
dem Kitsch überlappt.8 Kunze denkt und malt anders. Sein dokumentarischer
Blick wird in den Fotografien deutlich, die in abgelegenen
Gebieten Griechenlands entstehen, und in seiner
Anwendung derMalerei als ein altes neues Kommunikationsmittel,
das mehr als ein Korrektiv zu Neuen Medien sein soll. Die
Unreinheit der Malerei wird in den Les Messieurs d´Avignon zum
Thema, ihr Inhalt ist entgegen dem anderen, amtlich durchgesetzten
Programm »weniger griffig, weniger besetzbar, und auf keinen
Fall linear fortschreitend. Eine seltsame, leicht ins
Melancholische driftende Sperrigkeit erscheint hier. [...] mit Hegel
gesprochen, die Tendenz zum Negativen zeigt diesen Weg als
eine Art zeitloser Schattenseite der Moderne, und als einen Untergrund,
der zum Verständnis der Moderne notwendig ist.«9
Während zum Schluss des Katalogbuches Texte ohne
Verben von Michael Kunze Nelson Goodman zitiert wird,10 erscheint
es mir für den Einstieg hier sinnvoll, kein Zitat zu verwenden,
sondern den Text von Michael Kunze anzufügen, in dem er
seine zwischen Herbst 2005 und Sommer 2006 entstandene
Werkreihe der bösen Buben der Moderne selbst erläutert. Im
Interview mit Raimar Stange wird ein kulturkritischer Kontext
thematisiert, der weit über mediale Fragen hinausreicht. Schließlich
eröffnet Rainer Metzger, dem die Buchstäblichkeit von Bildern
seit Münchner (leuchtenden) Tagen ein Anliegen ist, eine
ganz andere Betrachtung dieses Werkzyklus, die einen wichtigen
Baustein nicht nur zum Verständnis des eigentümlichen OEuvres
von Michael Kunze darstellt. Alle Texte mögen auch zum Verständnis
einer anderen Wirklichkeit an einer anderen Grenze unseres
Selbstverständnisses beitragen.
Den Autoren ist an dieser Stelle zu danken, für die Bereitschaft,
an dieser Publikation mitzuwirken und der Ausstellung
eine Buchstäblichkeit im klarsten Sinne des vorliegenden Kataloges
an die Seite zu stellen, der zugleich notwendig und abwegig
ist, wie auch diese Bilder ein »es muss« wie ein bejahendes Nein
bedeuten. Boris Dworschak hat die fabelhafte grafische Gestaltung
übernommen, Julia Bernard die Übersetzungen und Sally B.
Defty und Christiane Rieks das Lektorat. Nicht zuletzt habe ich
Michael Kunze, dessen Malerei ich seit 1993 in befremdlich träumerischem
Gedenken halte, den Leihgebern und einigen Förderern
und Liebhabern Kunzescher Malerwelten zu danken, dass
dieser Katalog und die Ausstellung Les Messieurs d’Avignon in
ihrer Vollständigkeit aus dem Dunkel des Ungewissen heraus ans
Licht treten und wirklich werden konnten.
Les Messieurs d’Avignon, Köln 2007, S. 05
[1] Herbert Marcuse, 1960, ergänztes Vorwort zu Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, New York 1941 (dt. 1962), abgedruckt in: A Note on Dialectic, in: The Essential Frankfurt School Reader, New York 2000, S. 444–451), hier: S. 448.
[2] Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main 1973, S. 265
[3] Vgl. Michael Lingner, in: http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv/ml_publikationen/ kt97-9.html
[4] Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/Main 2006
[5] Vgl. Peter Sloterdijk/Thomas Macho, Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis, Zürich 1993
[6] Greil Marcus, Lipstick Traces: A Secret History of the 20th Century, Cambridge, Harvard University Press, 1989.
[7] Slavoj Zizek, Die Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-politische Versuche, Wien 1996, S. 63
[8] Vgl. ebd., S. 95: »So wurden sie zunächst als die Träger einer anti-traditionalisti schen Revolution des Malens wahrgenommen, [...] nur um kurz darauf – mit dem Aufkommen des Impressionismus in Frankreich – als bloßer Inbegriff eines schwülen, viktorianischen, pseudoromantischen Kitschs abgewertet zu werden. Diese Geringschätzung währte bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts, das heißt bis zur Heraufkunft der Postmoderne.«
[9] Texte ohne Verben. Susanne Prinz im Gespräch (per e-mail) mit Michael Kunze, in: Michael Kunze, Texte ohne Verben. Arbeiten 1991–2001, Köln 2002, S. 81–126; hier: S. 100
[10] Nelson Goodman, Tatsache Fiktion Voraussage, in: ebd., S. 177: »Wir haben uns daran gewöhnt, die wirkliche Welt als eine von vielen möglichen zu betrachten. Dieses Bild muss zurechtgerückt werden. Alle möglichen Welten liegen innerhalb der wirklichen.«