Falsche Bauern

Ein berühmter Irrfahrer, der an einem berühmten Krieg nicht teilnehmen wollte, hatte sich eine List ausgedacht, wie er der drohenden Verpflichtung zum Feldzug entgehen könne: Er gab sich den Anschein, verrückt geworden zu sein. Zum Zeichen seiner Unzurechnungsfähigkeit pflügte er mit einem Ochsen und einem Esel den Strand und säte dazu Salz statt Samenkörner in den Sand. Doch der Kriegsbote misstraute der absurden Szene und ließ sich selbst eine List einfallen, um zu prüfen, ob die Verrücktheit echt oder gespielt war. Er nahm den kleinen Sohn des Verweigerers und legte ihn direkt vor den heranrückenden Pflug. Würde der falsche Bauer den Pflug anhalten, so müsste er damit seine Schauspielerei zugeben und sich als der Vater verraten, der die Seinigen erkennt und deshalb kein Idiot ist. So kam es, wie es kommen musste: Damit seinem Sohn nichts geschehe, hielt Odysseus an, musste sich zu erkennen geben und mit den Verbündeten in den Trojanischen Krieg ziehen.
      Die Idee, sich durch die Vortäuschung von Verrücktheit einem unangenehmen Dienst an der Gemeinschaft zu entziehen, ist ein bekanntes Motiv. Die neuen falschen Bauern tauchen z. B. auf jenem komplex verminten Feld auf, das seit Beginn der Moderne den fast natürlichen Grund für einen bedeutenden Teil aller künstlerischen und geistigen, d. h. postreligiösen Tätigkeit bildet. Dabei ist der mit Absicht gespielte Wahn, der ein Individuum für die Gesellschaft untauglich erscheinen lassen soll, zu unterscheiden von jenem vermeintlich erzwungenen Wahn, der aus dem Fehlen einer gesellschaftlichen Aufgabe entspringt, wie etwa bei Hölderlin oder Nietzsche – und am Beispiel van Goghs entsprang hier sogar ein neuer Urtypus des modernen Künstlers. Schließlich gibt es noch zwischen Abgrund und Klischee eine dritte Form der Verstellung, die aber auf einem stillschweigenden Arrangement zwischen der Gesellschaft und ihren sich willentlich oder unwillentlich abkoppelnden Subjekten beruht, nach dem Motto: Gerade da, wo wir uns eine kleine Unstimmigkeit leisten können, zeigt sich die Immanenz des Systems! In allen drei Fällen, sowohl der gespielten odysseischen Verrückung als auch der zur Not gewordenen hölderlinschen Verrückung wie auch der arrangierten Verrückung des spätmodernen Künstlers als anerkanntem Gesellschaftsclown, geht es den falschen Bauern darum, die Lücke im System einer Wirklichkeit zu kennzeichnen, das – theoretisch – auf vollständiger Lesbarkeit beruht. Doch was heißt Lücke im System, und in welcher Weise setzt ihre Möglichkeit eine Regel voraus, die besagt: Was nicht lesbar ist, scheidet aus? Und inwiefern muss die unleserliche Stelle dennoch Teil einer Realität sein, in der sie als paradox definiert wird?
     Bevor die unleserliche Stelle eine Funktion erhält, muss gefragt werden, wie sie zustande kommt. Und hier bereits gerät man in den Zirkel jener entmythologisierenden Ursprungsfrage, die seit der Antike der westlichen Entwicklung ihre Ruhelosigkeit und ihren Drang ins Unbegrenzte verlieh. Diese Ursprungsfrage gegen die Tautologien analytischer Erklärungsmuster, die letztendlich von der fantastischen Weltlichkeit eines pantheistisch gedeuteten Universums herrührt, kann jeden, der in ihren Sog gerät, in den Wahnsinn treiben oder zu Höchstleistungen anspornen – manchmal auch beides zugleich. Ihr Zirkel besteht darin, dass die Unterbrechung des Lese- und Abbildungsvorgangs das Unterbrochene voraussetzt und umgekehrt: Wo alle Realität darin besteht, abbildbar und lesbar, d. h. simulierbar, zu sein, sind die festen Gründe dieser Realität aufgehoben. Weil das Ideal der perfekten Simulation schließlich auf die Ununterscheidbarkeit von Abbild und Original hinausläuft, lässt sich auch nicht mehr entscheiden, ob es eine logische oder dialektische Reihenfolge geben kann zwischen dem formalen Bestand eines Textes und dem Bestand seines sogenannten Inhaltes. Atomismus und/oder unmögliches Nichts? Das spätmoderne Verlangen, der Dynamik dieses Zirkels durch die Vorstellung einer reinen Form zu entkommen, hat nur zu einem besonders ungehemmten Wildwuchs dessen geführt, was als Inhalt ausgeklammert bleiben sollte. Mit der Frage nach den Bedingungen einer Unstimmigkeit im System ist der neue Irrfahrer in die Formalismusfalle eingetreten, deren Hermetik alle Grenzen sprengt – und die unleserliche Stelle seines Textes, genannt Wirklichkeit, bildet den Schlusspunkt dieses Systems aus lückenloser Reflexion.
      Unpassierbar scheint der Raum zwischen nächster Nähe und gespiegelter Ferne zu sein – als der Saum eines Landes, über dessen gesalzene Furche hinweg der Streuner in das Bild versetzt ist, das seine Lektüre bildet. Eine Lektüre, die davon erzählt, wie der Wind so lange durch die Seiten blättert, bis sein Besitzer nicht mehr weiß, wo es aufgeschlagen war. Gleichsam ohne Motiv wirft er sein Gepäck samt Zünder über die Böschung. Dann plötzlich, mitten auf dem unbeackerten Feld, stolpert er und fällt in ein leeres Schwimmbecken. Seit Jahren fließt hier schon kein Wasser mehr, doch eine Tanksäule am Beckenrand steht bereit, damit man jederzeit den Pool mit Benzin füllen kann. Man fragt sich, ob man in Benzin schwimmen kann, und überhaupt: Gibt es hier auch einen Feigenbaum? Jenseits des gepflügten Strandes sind die Spuren durcheinandergeraten. Obwohl niemand zu sehen ist, liegt ein Hemd im Gras – wahrscheinlich wird es irgendwann von einem Freiheitskämpfer zum Putzen seiner Waffen verwendet. Der Streuner kniet in dem verlassenen Becken auf seinen Siebensachen und versucht, in die Sonne zu blicken, bis sich die dunklen Ränder seines Höhlenausgangs im Licht zu überlagern beginnen: Der Blick auf den Einschlagsort des Blitzes verdüstert sich in Erwartung des Regenschauers, der das Labyrinth endlich fluten soll, damit den gebrannten Kindern der Preis ihrer Selbstverleugnung erspart sei! Während die sich kreuzenden Winde die Wolken in ein planvoll verzerrtes Schachbrett verwandeln, steigt von unten der Geruch von Asche auf. Wer konnte jemals den Flammen Zungen geben? Die Nichtschwimmer beschreiben den Schwimmern den Geruch des Feuers, und sie erinnern sich dabei an kleine Differenzen auf der sonnigen Schultreppe. Doch wer malt noch heute sein Gesicht dunkelrot an, wenn er eine Luftmatratze mit dem Mund aufblasen muss?
       Scharfes Licht zwischen tiefen Schatten, sprunghafte Geschichte, kalter Wind: Was bei Tag nicht zusammenpasst, hat bei Nacht seine Notwendigkeit. Was unleserlich genannt wird, ist nur überschrieben worden, und der Fortschritt in der Überschreibung ist ein Widerspruch in sich. Zwischen den Fetzen möglicher Handlungen ohne Motiv ist von Anfang bis Ende der zu konstruierenden Geschichte nur ein erster Handstreich wirksam. Die Täuschung, dem Blitzpunkt auch nur um einen Deut näher gerückt zu sein, überzieht die Gegenwart von Vergangenem mit einem Schleier von Melancholie, und sie gibt der Lücke im System als dem Phänomen der Unleserlichkeit überhaupt seine antitragische Bedeutung, die trotzdem nicht komisch sein kann. Doch die echte oder unechte Wahrnehmungsstörung ist nicht die tatsächliche Unterbrechung des Kreislaufs, sondern sie ist umgekehrt Beweis der Selbstbewegung jener Alles-oder-nichts-Instanz, über deren Berechtigung man sich streiten kann. Alles beim Alten, alles beim Neuen: heilige Not statt Sterblichkeit durch Aufklärung! Atmosphärisches erscheint als das Medium logischer Verknüpfungen, und der Schuss, der hinter dem Erzähler abgefeuert wird, kann bei Trost nicht mehr als ein Warnschuss sein. So lautet das Fazit querfeldein: Nur ein wahrer Bauer oder falscher Verrückter würde scharf auf seinen Helden schießen, um zu demonstrieren, dass er für den bevorstehenden Krieg untauglich ist.


Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 329