Halkyonische Tage
Die »halkyonischen Tage« bezeichnen nach griechisch halkyon – der Eisvogel – die Brutzeit
des Eisvogels zur Wintersonnenwende im späten Dezember. Während dieser Zeit soll es südlich
der Alpen kalt, klar und windstill sein, weshalb ein einsamer Wanderer namens Friedrich
Nietzsche immer dann von seinen »halkyonischen Tagen« sprach, wenn sein ständiges Kopfweh
eine kurze Phase der Besserung erfuhr. Selbst in der Hochgebirgsluft der Engadiner Alpen bei
Sils-Maria, wo er seine Sommermonate verbrachte, ließen diese Schmerzen immer nur vorübergehend
nach – was in dem von ferner Zeit umwobenen Fremdklang der Metapher bereits
eingeschrieben scheint.
GESTERN.
Zugleich verbirgt sich in dem Bild der erhofften mythisch-klimatischen Reinigung ein Motiv,
das noch weiter reicht, als es der Ausspruch Nietzsches zunächst thematisiert: Es wird auf die
Nord-Süd-Ausrichtung einer eurokontinentalen Geisteshaltung angespielt, in deren Tradition
Nietzsche eine markante Position an der Schwelle zur Moderne einnimmt. Das Ideal des antiken
Griechentums, das seit Johann Joachim Winckelmann die frühmoderne Identitätsbildung
begleitete, führte durch einen gleichsam transhistorischen Überschwang zu dem Wunsch, dieses
Erbe gegen die aufkommenden relativistischen Kräfte der Zeit zu vollenden. Das Licht einer
neuen Epoche sollte ihr Ideal an dem Licht haben, das noch über den Trümmern der antiken
Stätten strahlt – und es sollte dasselbe Licht sein, das ehemals die sokratische, d. h. urmoderne
Fragestellung ermöglichte, die gerade im analytischen Willen auch die Nacht der Geschichte
gelten lässt. Die kulturelle Erneuerung sollte auf einer Anknüpfung beruhen, ohne die alles
Weitere blind, taub und stumm bliebe: Vielgötterei und Pantheismus sei das Angemessene einer
neuen und freien Welt, deren Ursprung nicht in Jerusalem, sondern in Athen liegt. Nach dem zu
erwartenden Kehraus der monotheistischen Amtsreligionen sollte nicht eine Welt ohne Moral,
sondern eine Welt ohne Doppelmoral in den kalten Tagen des Eisvogels ausgebrütet werden:
Homers »Odyssee« sei die Bibel der Moderne! Der Ruf durchschneidet die Stille jenes wolkenlosen
südlichen Winterhimmels, in dem der Wanderer dem Ursprung eines Weges folgte, der
ihn auf das Gebirge nicht nur hinaufführte, sondern ihn auch wieder herabzuführen hatte, ohne
dass die Kopfschmerzen erneut einsetzten.
HEUTE.
Das Kopfweh ist längst zugunsten anderer Erscheinungen verflogen: Geistige Umnachtung, Tod,
Intrigen führten in ein neues Jahrhundert der Zerreißproben. Doch der nihilistische Schatten, der
während der »halkyonischen Tage« beschworen wurde, bleibt die Realität eines zweiten
Blicks. Kein technologischer Fortschritt, kein neuer Fundamentalismus und keine Aufklärung
können ihn vertreiben. Je mehr aber die Aufhebung aller motivierenden Differenzen zum paradoxen
Reinheitsziel einer Geschichte erklärt wird, der das Chaos auszutreiben sei, desto chaotischer
und zwielichtiger erscheinen die einzelnen Schritte und Motive dieser Geschichte.
Im 21. Jahrhundert verschärft sich der widersprüchliche Fortgang der Ereignisse. Aus
der Einheit, die das zu Vereinigende einer autistischen Apparatur unterstellt, entstehen neue
Kontrastmittel und Distanzierungsverfahren, die sich diesmal nicht gegen den nihilistischen
Schatten bewegen, d. h. ersatzreligiös, sondern mit ihm, d. h. dämmerungsaktiv. Ohne die Gesetze
der Postdramatik und des Verkörperungstabus zu missachten, erscheinen in neuer Kompaktheit
jene Ausgangspunkte, die den Sonderstatus eines kulturellen Zusammenhangs jetzt
erst recht begründen: Auf dem Weg von der platonischen Höhle über den sixtinischen Kosmos
bis zur Hypothese einer Dunklen Materie hat sich nicht nur ein physischer, sondern auch ein
metaphysischer Quantensprung ereignet, der die Zäsur zwischen Rolle und Akteur mit Parmenideischen
Konsequenzen versieht: Wer jetzt spricht, kann authentisch sprechen und trotzdem
neben sich stehen.
Die moderne und postmoderne Verdammnis zur Sentimentalität hatte eine Befangenheit
hervorgerufen, die jede Aussage, die nicht zu ihrer eigenen Aufhebung beiträgt, unter
Dogmatismusverdacht stellt. Doch der Fluch wirkt nur so lange, wie sich die Irrationalität seiner
Begründung nicht verrät. Ist der Verrat aber geschehen, so lässt sich das Dogma, das ein
nicht relativistisch gemeintes Wort für naiv erklärt, in der atomistisch verspiegelten Welt des 21.
Jahrhunderts nicht mehr halten. Mit der fälligen Korrektur taucht ein fast vergessener Kontext
an die Oberfläche, der die Reste kultureller Identitäten an ungewohnter Stelle neu magnetisiert:
analog, ohne Datum, fast ohne Information und doch durchzogen von labyrinthischem
Text. Es gibt keinen Grund mehr, das Nichts zu fürchten. Wer so mit Nietzsche die panischen
Grenzverwischungen einer missverstandenen Geschichtseschatologie und das hierzu gehörige
Verbot des Autors infrage stellt, betreibt heute nicht mehr subtile Reaktion, sondern Zukunftshöhlenforschung.
Ob damit die Lichtquelle selbst benennbar wird, die einer Epoche ihren Schatten verleiht,
hängt davon ab, wieweit der neben sich Stehende dem Schatten jene Negativität abspricht,
die das Geschehen determiniert. Je deutlicher die Zäsur ist, desto mehr zeigt sich, dass es nur
auf den Schatten ankommt, den der Akteur selbst wirft – während das Licht auch bei maximaler
kosmologischer Erweiterung ein Bühnenlicht bleibt, auch für parsische Heilige. Und da,
wo die Unterscheidung von Licht und Schatten eine letzte Grenzziehung ermöglicht, dröhnen bereits die
Rückkopplungen: Es rauscht eine Windschleife in den Zypressen der Toteninsel, und
es ertönt ein Bocksgesang, der ausnahmsweise ohne Werbeunterbrechung die Ufer erreicht.
MORGEN.
An den Ufern herrscht jetzt Goldgräberstimmung oder Katzenjammer.
Die Sehnsucht nach den »halkyonischen Tagen« aber, ausgesprochen auf den Höhen
eines Gebirges, das in Europa die geografische und kulturelle Scheidelinie zwischen Nord und
Süd, antiker Kultur und moderner Zivilisation versinnbildlicht, erzeugt vor diesem Hintergrund
ein zukünftiges Echo, das die melancholische Ernüchterung über den kulturkämpferischen
Ruf hinaushallen lässt: Trotz der inzwischen eingetretenen Verwerfungen bleibt die Frage
offen, wohin der zu beflügelnde Wille sich wenden kann, wenn das kalte Wasser vor allem eine
gefährliche Erfrischung ist. Sind die Täler schon überflutet, ist kein Abstieg mehr möglich. Und
der Wanderer, der für seine Gesundheit zum Eremiten in den Engadiner Bergen wurde, steht
auf einer Insel in einem Meer, über dem die Eisvögel ihre schwebenden Nester bauen.
Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 14