Historisierung

A: Wenn eine ursprünglich zweckmäßige Tätigkeit im Lauf der Zeit sich soweit verselbständigt, dass sie diesen Lauf selbst nicht mehr erkennen lässt und durch ihr Beharren „unzeitgemäß“ wird, dann kann man sagen, dass diese Tätigkeit in eine Krise geraten ist. In dem nämlich ihr alter Sinn verloren gegangen ist und ein neuer nicht in Sicht ist, muss die solcher Art „frei“ gewordene Tätigkeit für sich eine Definition finden, die der Leere ihres Ortes einerseits entspricht (um nicht naiv den Eindruck zu erwecken, es sei alles beim Alten geblieben), -und die andererseits dieser Leere auch widerspricht (weil sonst konsequenterweise die Tätigkeit ganz aufgegeben werden müsste). Wie aktuell kann die hier gemachte Beschreibung einer Krise heute für den modernen Modellbegriff „Kunst“ sein?

B: Eine derartige Krise braucht bei erstem Hinsehen nichts Neues zu bedeuten, da die Kunst seit Bestehen ihres Begriffs, d.h. seit mehr als 200 Jahren in dieser Krise steht. Vorher gab es zwar eine künstlerische Tätigkeit, aber nicht einen Begriff dafür, der wesentlich in philosophische und weltanschauliche Debatten involviert gewesen wäre. Der Künstler war bekanntlich ein gehobener Handwerker, dessen klar definierte Rolle darin bestand, einer fest gefügten Gesellschaftsordnung Ausdruck und Schmuck zu verleihen. Nachdem diese Ordnung aber zu Bruch gegangen war, schien auch der dazugehörige Gestalter und Dekorateur erst einmal arbeitslos zu werden, wenn nicht wie der Phoenix aus der Asche, als das sichtbar unfassliche Konglomerat aller verlorenen Verbindlichkeiten aus einer immerhin jahrtausendalten Entwicklung eben jener Begriff "Kunst" aufgetaucht wäre, der plötzlich ein fast allgemeines Interesse weckte. Utopisten aller Art sahen ihr Ziel enthalten in der ausgestoßenen Funktion dessen, was dieser Begriff "Kunst" nun als ein geistiges Extrakt aller möglichen Ordnung für eine gemeinsame und immer erst zukünftige Welt versprach. Hier sollten beispielhaft all jene Ideale der Moderne vorgeführt werden, die sich in der bedingten Realität nur sehr schwer tun konnten. Die so einsetzende Zeit des Begriffes "Kunst", der in mancher Hinsicht die verlorene Verbindlichkeit der Religion zu ersetzen hatte, hieß die Moderne.
Gleichzeitig aber - und dies macht den von Anfang an krisenhaften Charakter des neuen Begriffes aus - musste aus dem Mangel seiner tatsächlichen Einbindung in die Gesellschaft der Begriff seine Definition ganz in sich selbst finden. Da dieses "Selbst" jedoch durch den unumgänglichen Bezug zu einer ständig sich wandelnden Umwelt ein wahres Phantom blieb, sprach die versuchte Definition des Begriffes immer nur seine letztliehe Undefinierbarkeit aus, -was fortan zum lebensnotwendigen Mythos des Begriffes gehörte. So kam es, dass bereits mit den Anfängen des neuen Begriffes "Kunst" auch schon immer vom "Ende der Kunst" die Rede war: Weil dem plötzlich fortreißenden Strom der Geschichte kein allgemeinverbindlicher Halt mehr entgegenzusetzen war, erschien die ständige Vorstellung vom "Ende der Kunst" gleich- zeitig wie ein ironischer Reflex der eigenen Unfähigkeit, den ersehnten Halt, den die hohen Ideale versprachen, tatsächlich umzusetzen.

A: Indem sich der Begriff selbst nicht definieren und halten kann, spricht er den einzig noch möglichen Ruhepunkt als sein eigenes allgegenwärtiges Ende aus. In diesem grundsätzlich krisenhaften Charakter des Begriffes "Kunst" liegt auch der Grund für das moderne Phänomen der immer rascher gewordenen Stilfolgen. Je schneller und haltloser eine solche Folge wird - bis zur völligen Gleichzeitigkeit aller Unterschiede bei gemeinsamer Höchstgeschwindigkeit -, desto absurder erscheint dann die sich häufende Ausrufung eines Endes, einer Aufhebung und eines letzten Bildes.

B: Das erste Bild, das im modernen Sinn "Kunst" sein sollte, war schon das letzte Bild: Es ist unauffindbar. Die Aufhebung geschieht im Begriff selbst, und nirgendwo außerhalb.

A: Diese Integrationsfähigkeit des Begriffes war wohl auch der Grund dafür, dass es nach dem jeweils proklamierten Ende doch immer weitergehen konnte. Wenn aber die Aktualität der Krise darin bestehen soll, dass nicht ein mögliches Bezugsobjekt des Begriffes, sondern eben dieser Begriff selbst sich in der Auflösung befindet, so muss jetzt nach der Grenze jener Integrationsfähigkeit gefragt werden. Der Begriff müsste nämlich genau dann seine integrative Kraft einbüßen, wenn er seine definierte Unfassbarkeit verlieren würde, d.h. wenn er historisch würde. Wie aktuell also ist die hier beschriebene Krise?

B: Bisher konnte der Begriff seiner historischen Verfestigung immer wieder dadurch entgehen, dass der beschworene Schlusspunkt selbst wieder zur "Kunst" gemacht werden konnte. Dies war die Bewegung der Avantgarden: Die Forderung der eigenen Aufhebbarkeit fand jeweils im scheinbaren Akt der Aufhebung zugleich ihre Widersprechung und doch weiter forttreibende Kraft: Ob schwarzes Quadrat oder Urinoir, immer erwuchs aus der angeblichen Sprengung des Begriffes seine noch ausladendere Bestätigung, und die Museen -als die Hauptinstitution des Begriffes- füllten sich. Das ganze Spiel von vermeintlicher Grenzüberschreitung und vermeintlicher Wiedereinholung ins System zementierte nur das nihilistische Ghetto des Kunstbegriffes und fand seinen Inhalt jeweils "neu" in der autonomen, sich selbst meinenden Bewegung.
Es zeigt sich aber, dass diese scheinbar zeitlose Bewegung auf die Dauer einen abnützenden Effekt auf ihren Grund (als die eben umspielte Systemgrenze) ausübt, womit sie schließlich selbst in die Zeit zurückgeholt und so zum realen Stillstand gebracht wird. Während die zehnte Reminiszenz an das Urinoir die vielbeschworene, weil lebensnotwendige Systemgrenze irgend- wann nicht einmal mehr zu berühren vermag, erscheint andererseits dieselbe Grenze trotz ihrer vollendeten Hermetik in völliger Auflösung begriffen. Indem sie als der Horizont jeder noch weiterhin denkbaren Tätigkeit absolut geworden ist, kann der Begriff, der die Grenze einstmals fassen sollte, als die absolut leere Form keinem möglichen Inhalt mehr widerstreben. Damit ereignet sich die logische und historische Verabschiedung des Begriffes durch eben jenes Mittel des freien Selbstbezuges, das für seine mystifizierende Selbstbegründung immer notwendig schien.

A: Das wäre eine Herleitung der besagten Auflösung aus der Struktur des Begriffes selbst. Es gäbe aber auch eine inhaltliche Herleitung, die sich im Wesentlichen auf eine Beurteilung jenes Zeitalters der Moderne stützen kann, dessen Kind ja auch der fragliche Kunstbegriff ist. Die beiden großen aufklärerischen Ideen dieser Moderne, nämlich die soziale Idee einerseits und die ihr vermeintlich entgegengesetzte Idee des selbstverwirklichbaren Individuums andererseits scheinen in einer Welt, deren Lebensraum bei steigender Bevölkerungszahl immer knapper wird, keinen realistischen Anhaltspunkt mehr zu besitzen. Weder die gerechte Gesellschaft noch das freie Individuum sind angesichts des hier drohenden existenziellen Engpasses noch verwirklichbar. Ebenso steht es mit dem alleszusammenhaltenden Überbegriff der Moderne, nämlich dem Begriff der Freiheit: In diesem Begriff wurzelten sämtliche Zielsetzungen des nachreligiösen Zeitalters, und von hier aus ergab sich die ganze Dynamik seiner Entwicklung. Auch der Begriff "Kunst" wurde ja ganz wesentlich als ein bloßer Modellbegriff für die leitende Idee erfunden, dass "Freiheit" umfassend verwirklichbar sei. Mit der Diskreditierung dieser Möglichkeit aber müssen nun auch die ganzen Folgebegriffe der Moderne an Glanz verlieren.
Ihr damit einhergehender Rückschlageffekt, der das praktische Scheitern jener "an sich" guten Ideen vor Augen führt, war in entscheidendem Maß schon durch die irreführende materialistische Umdeutung der Ideen nach Hegel eingeleitet worden. So hat der falsch verstandene Idealismus zum Ende der Moderne die Überlebensfrage der Menschheit in eine primär technische Frage verwandelt, womit zu guter Letzt auch "das Politische" -seit Jahrzehnten die Domäne allen kritischen Denkens- seine ideale Selbständigkeit verlieren wird, um sich Schritt für Schritt ganz jenen technischen Fragestellungen, von denen jetzt alles abhängt, unterzuordnen.

B: Wenn somit der Begriff "Kunst" als Modellbegriff innerhalb des genannten aufklärerisch- romantischen Ideengefüges der Moderne angesehen werden kann, findet die Auflösung des Begriffes hier auch modellhaft statt. Der ganze Prozess seines allmählichen Unhaltbarwerdens hatte im Jahrzehnt der 80er-Jahre des 20.Jahrhunderts bereits seine erste dialektische Blüte: Während einerseits die Kunst wie nie zuvor in diesem Jahrhundert gefeiert und bezahlt wurde und die Museen wie Pilze aus dem Boden schossen, verbreitete sich unter dem noch vieldeutigen Namen der Postmoderne die Entkernung und Verblindung aller geschichtlich tragenden Konstanten der plötzlich historisch werdenden Zeit, -deren "Auflösung" wider Erwarten im gleichzeitigen Nebeneinander alles Bisherigen liegen sollte. Ein letztes Mal konnte hiermit noch - gleichsam als schöpferischer Widerspruch der Blüte schlechthin - die Mystifizierung des praktisch schon längst banal und zahnlos gewordenen Kunstbegriffes gelingen.

A: In diesem Zusammenhang zeigt sich, wie irreführend die immer wieder gemachte Entgegenstellung von Moderne und Postmoderne ist. Die Postmoderne mit ihren verschiedenen ahistorisch differenzierenden Wirkungen kann nur verständlich sein, wenn man in ihr den beginnenden Prozess der Vollstreckung all dessen erkennt, was die Moderne im Spiel der Grenzüberschreitungen immer nur gefordert hatte und wovor sie zuletzt als "Kunst" immer wieder zurückgeschreckt war. Indem aber schließlich ein Punkt erreicht wurde, der aus dem Spiel Ernst machen musste (durch die plötzliche Nähe einer globalen existenziellen Bedrohung), konnte die Vollstreckung der Moderne durch ihre eigenen Mittel in der Postmoderne zahllose Ungereimtheiten und naive Vorstellungen ans Licht bringen, die sich diese Moderne über ihre realen Bedingungen und begrifflichen Voraussetzungen gemacht hatte.
Welche Konsequenzen hat nun die hier vorgestellte Auflösung des Begriffes auf die Gegen- wart, und wie könnte man sich eine Welt vorstellen, in der es den Begriff "Kunst", wie er heute historisch verständlich ist, nicht mehr gibt?

B: Der Auflösungsprozess des Begriffes, dessen ideale Phase wohl die Moderne selbst, insbesondere in ihren als "klassisch" bezeichneten Perioden war, und dessen reale Phase provisorisch als Postmoderne benannt wurde, kann Jahrzehnte und länger in kleinen und unspektakulären Schritten vor sich gehen, begleitet von unzähligen modernistischen und postmodernistischen Remystifizierungs- und Wiederbeatmungsversuchen des sterbenden Kunstbegriffes.
Nachdem zunächst in einer sogenannten "Marktkrise" das idealisierte "Geistige" an der gestalterischen Tätigkeit, das über einen ästhetisch-anschaulichen Zweck hinausgeht, keinen Preis mehr findet (es war idealiter immer schon unbezahlbar), wird der Tätige, der vom Künstler wieder zum philosophisch eher uninteressanten Handwerker herabsteigt, dieser bescheideneren und ungenialen Funktion gemäß wieder kleinere Ziele verfolgen. Seine Arbeit wird wieder anonymer und unfreier vonstattengehen, und sie wird kein besonderes begriffliches Interesse mehr wecken, wie das in der Moderne noch grundsätzlich der Fall war. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass das ganze moderne Vermittlungswesen, von der privaten Galerie über eine akademisch betriebene Kunstgeschichte als Geisteswissenschaft bis hin zum Museum seine Basis zu verlieren beginnt, die der aufklärerisch-moderne Kunstbegriff war. Auch die vormoderne sogenannte "Alte Kunst" wird zum Schluss dieses Prozesses nicht mehr als "Kunst" angesehen wer- den, sondern nur noch unter gestalterischen, handwerklichen und auch historischen Gesichtspunkten Interesse finden. Um hier nicht nur einen Verlust zu sehen, sollte man sich nochmals klar darüber werden, dass ein Werk wie etwa Michelangelos Sixtina zu einer Zeit entstand, in welcher der Begriff "Kunst" zur Bezeichnung eines abgelösten heiligen Bezirkes überhaupt nicht existierte. Die eigentümliche Verquickung ästhetischer und moralischer Kategorien, die den modernen Kunstbegriff ausmachte, ließ an einem vormodernen ästhetischen Objekt die Bezeichnung "Kunst" nur deshalb zu, weil hiermit spezifische Sehnsüchte der Moderne auf das Objekt projiziert werden konnten, -von den dauernden Legitimierungsnöten des Begriffes, die hier zu lindern waren, einmal abgesehen.
Die heute bestehenden Museen mögen sich nach und nach zu historischen Sammlungen umwandeln, aber durchaus auch nach ästhetischen Gesichtspunkten geordnet als Sammlungen zugänglich bleiben, wo gestalterische Berufsgruppen aller Art Anregungs-und Lehrmaterial finden würden (so wie ja heute schon das Designmuseum existiert) Der ästhetische Sinn des Menschen hat Jahrtausende lang auch ohne den Begriff "Kunst" funktioniert, und er wird auch nach der Auflösung des Begriffes (der ja wesentlich von ideologischer Natur war) weiterhin funktionieren.
Der Entmystifizierung des Begriffes entspricht hier seine Entideologisierung. Mit dem Verlust seiner definierten Ungreifbarkeit ereignet sich dessen historische Verfestigung, und dies gegen die scheinbare Unerreichbarkeit der Idee, die der sichtbar entgleitende Begriff zu bewahren hatte.

A: Ist nun letztendlich die These vom sich auflösenden Begriff eine pessimistische oder auch konservative These, und wie lässt sich eine künstlerische, bzw. gestalterische Arbeit in der geschilderten Situation heute noch sinnvoll bestimmen?

B: Da die heute vor sich gehende Wandlung alle durch die Utopie entstandenen Denkmuster und Oppositionen untergräbt, ist auch das jeweilige konservative Gegenmodell von jenem Widerspruch betroffen, der jeden Begriff einer ersatzreligiösen Verbindlichkeit als Haltepunkt im Strom der Zeit zersetzen muss: Ein Begriff, der deshalb notwendig die Unfixierbarkeit des Geschehenden zum grundsätzlichen Ausgangspunkt einer Krise erhebt, muss ebenso notwendig mit der eigenen Unfixierbarkeit in diesem Geschehen "enden". Auch ein konservativer Standpunkt hat hier keinen Ansatz mehr, egal mit welch perfekter Oberfläche fundamentale Werte gegen den angeblichen Zerfall gesetzt werden sollen. Die Menschheit wird, wie vorhin gesagt, unter dem Druck technischer Probleme zusammenrücken müssen, wobei für Demokratie und Ideologienstreit nicht mehr viel Zeit bleiben wird. Pessimistisch müsste man sein, wenn man hier nur noch trauernd auf das Vergehende schaut, - vielleicht handelt es sich bei dem bevorstehenden Engpass aber um ein notwendiges Stadium in der Bildung der Menschheit, das die unbedachten Aporien vieler seit 200 Jahren moderner Leitideen nicht nur kritisch aufklärt, sondern das über diese zu Ende gehende Epoche trotz der zu erwartenden Opfer auch positiv hinausführen kann. Der "Betrieb" jedenfalls, wie er sich um die gegenwärtig in Auflösung befindlichen Begriffe ausgebreitet hat, wird keine große Leerstelle hinterlassen.
Was die Frage nach einer vom Kunstbegriff "übrigbleibenden" künstlerischen Tätigkeit betrifft, so lässt sich hierzu sagen: Der Künstler heute muss lügen, wenn er ehrlich sein will. Dies meint allerdings nicht den in der Spätmodeme bequem und kokett gewordenen Selbstwiderspruch, dass man irgendetwas ins Museum trägt und gleichzeitig behauptet, dass so etwas mit Kunst und Museum doch gar nicht viel zu tun hätte, sondern vielmehr mit Aufgaben. die weit darüber hinausgingen. Was dabei herauskommt, war und ist immer bloße Konzeptkunst, und Konzeptkunst ist Geniekunst, genauso wie die als bürgerlich verschriene subjektiv-expressive Geste. Es handelt sich nur um die zwei Seiten einer Münze. Das Genie aber in solchen anerkannt "verkennbaren " Äußerungsformen ist ein überholtes Produkt des genuin modernen Ideengefüges. Stattdessen kann polemisch gesagt werden, dass die Tendenz zukünftiger Arbeit nach der allgemeinen Krise des modernen Freiheitsbegriffes nicht mehr "Geniearbeit" , sondern "Sklavenarbeit" heißen wird, und dies für alle. Niemand wird mehr dafür geadelt werden, dass er eine Wand grün anstreichen lässt oder einen Autoreifen signiert, und zwar nicht, weil so etwas keine "Kunst" sei (der Begriff wird schon längst vergessen sein), sondern weil nur noch nach Stunden abgerechnet werden wird. Im Materialismus der kommenden Nadelörzeit (kein Cyber- space und kein Internet wird den Menschen hiervor bewahren) wird der Wert von Arbeit allein nach Spezialität und Nicht-Mechanisierbarkeit bemessen. Der "historische" Materialismus der Moderne, der immer das Paradies auf Erden vor Augen hatte, wird gegen den Materialismus der Nachmoderne als bloßer Mystizismus erscheinen müssen. Während die Moderne eine Säkularisierung und Rationalisierung der religiös gebundenen Wertvorstellungen der Vormoderne war, so ergibt sich mit der Nachmoderne wiederum eine zunehmende Säkularisierung des modernen Glaubensgebäudes. das um einen selbstzüglich verfassten Freiheitsbegriff gesponnen war.
Bestand folglich die ökonomische Verstellung in der Spätmoderne darin, dass man von großen menschheitsfördernden Aufgaben sprach und dabei doch nur "Kunst" produzierte, so betreibt die nach moderne "ehrliche Lüge" eine vordergründige Affirmation des Kunstbegriffes, der aber nur noch deshalb ansprechbar ist, weil er getrennt vom gestalterischen Mittel sich an seinen eigensten Intentionen zersetzt: Seine Wahrheit ist seine Vergangenheit, über welche die Gegen- wart der Bejahung hinwegzutäuschen scheint, obwohl sie in ihr eingeschlossen bleibt. Das Resultat ist dann nicht mehr ein Kunstwerk, sondern bei aller gestalterischen Absicht ein historisches Dokument.


KRITIK, Zeitgenössische Kunst aus München, 01/1996