IRAS Lesesaal West
IRAS, die »International Republic for Artists and Scientists«, ist das utopische Refugium einer
künstlerischen und wissenschaftlichen Elite nach der atomaren Verwüstung der Erde durch den
Dritten Weltkrieg. Die düstere Science-Fiction-Vision aus dem Kalten Krieg der 50er Jahre des
20. Jahrhunderts entstammt dem Text »Die Gelehrtenrepublik« (1957) von Arno Schmidt. Die
an IRAS geknüpfte Hoffnung – dass nach dem Untergang der Menschheit wenigstens Kunst
und Wissenschaft auf einer fahrbaren künstlichen Insel weiterexistieren – wird bitter enttäuscht:
Während nämlich die Ost-West-Spaltung auch hier noch fortbesteht und auf beiden Seiten geheime
medizinische Experimente am Menschen stattfinden, verwahrlosen die Bibliotheken, in
denen das Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt wird. Im westlichen Teil der Insel bleiben die
Lesesäle leer, was im Text als »Tragödie« bezeichnet wird, und im östlichen Teil marschiert man
in Kolonne zur Lektüre, was eine »Komödie« genannt wird.
Heute wissen wir, dass der Ost-West-Konflikt, der den Hintergrund solcher Endzeitszenarien
bildete, sich nicht in einem dritten Weltkrieg entlud, sondern durch die Komplettvermarktung
der Welt überwunden wurde und wird. Die Kulturkritik hingegen, die Arno
Schmidt in seine Utopie einschrieb, hat an Aktualität nichts eingebüßt, im Gegenteil: Je mehr
nämlich die sogenannte Kultur des Westens auf dem globalen Siegeszug ist, desto deutlicher
wird die Auslassung spürbar, auf die sich die Kritik bezieht, obwohl sie von so anderen historischen
Verhältnissen ausging – und umso präziser kann jetzt das Vergessene benannt werden,
das den leeren westlichen Lesesaal zum Zeichen der gescheiterten Utopie macht. Dieses Vergessene,
durch das der Sieg westlicher Kultur zu einem Pyrrhussieg wird, markiert einen Bereich
jenseits des populärkulturellen Camouflage-Mainstreams, der zu Arno Schmidts Zeiten gerade
im Entstehen war. Die These von der leeren Bibliothek führt damit auf die Spur eines folgenschweren
Verlustes: Es ist ebenjene labyrinthische, vermeintlich zukunftsabgewandte Seite
einer Epoche, die zu dem Zeitpunkt, als IRAS erfunden wurde und notwendig erschien, noch
ungebrochen die »Moderne« hieß, heute aber in diverse Nachepochen zersplittert ist. Das Vergessene,
das in dieser Zersplitterung auf unverhoffte Weise wieder frei wird, ist ein Schatten
der Moderne – und man kann diesen aufsteigenden Schatten in Anlehnung an das berühmte
Gemälde von Arnold Böcklin die »Toteninselmoderne« nennen.
Die Auseinandersetzung mit historischen Stationen dieser Schattenlinie der Moderne
erlaubt unterschiedliche Fokussierungen: Beispielsweise fällt das Licht auf Peter Steins
16-stündige Gesamtinszenierung von Goethes »Faust«-Dichtung aus dem Jahr 2000 – ein Werk
aus den Anfängen der genannten modernen Schattenlinie. In der klassischen Walpurgisnacht
(Faust II), in der als Gegenstück zur nordischen Hexenküche (Faust I) die südliche Welt der
Antike thematisiert wird, findet deren fantastische Aneignung schon in bewusstem Gegensatz
zum aufklärerisch-analytischen Ikonoklasmus jenes Ideengefüges statt, das schließlich in die
amtliche, reformatorisch-orthodoxe Moderne führt, in der für solchen düster mythischen Ballast
kein Platz mehr ist. Der vermeintliche Triumphweg einer eingleisig definierten westlichen
Kultur hat hier schon eine Grenze erreicht, die seitdem wie ein bizarr verinnerlichter Prometheus-
Reflex jeden weiteren Schritt begleitet. An anderer Stelle fällt das Licht auf die Mythenverfilmungen
Pier Paolo Pasolinis aus den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, wo an
einem vorläufigen Ende des verwirrenden Spiels von Selbstverlust und Selbstfindung die antike
Erinnerung nochmals eine elegische Bilderfülle entfaltet.
Im Brennpunkt der fast vergessenen Achse eines innereuropäischen Nord-Süd-Bezuges,
der viele der schattigen Aufladungen eines ästhetisch orientierten Denkens prägte, bieten
der Faust-II-Stoff sowie die pasolinischen Bildfindungen eine vielfältige Ansicht der blendenden
Dämmerung. Nur symbolisch und traumhaft verknüpft, treffen im ersten Beispiel entlegene
mythologische Bezüge und surreal bebilderte kosmologische und politische Theorien mit
historischen Figuren zusammen – so z. B. tragen die vorsokratischen Philosophen Thales und
Anaximander den zu Goethes Zeit aktuellen Gelehrtenstreit zwischen den sogenannten Neptunisten
und Vulkanisten auf dem Gebiet einer kosmologisch gefassten Naturgeschichte aus.
Pasolini andererseits versucht die heidnisch-antike Ursprungsthematik noch ein letztes Mal in
der nordafrikanischen Wüstenlandschaft auf das Wesentliche zu konzentrieren, in archaischen,
nur spärlich mit Text versehenen Bildern. Der in die Ferne gerückte, kalte Süden ist das Motiv,
das durch die ganze Moderne hindurch einen abgedunkelten Richtpunkt bildet bei der alten
und neuen Suche nach einer nicht nur massenkulturell vermittelten europäischen Identität. Je
verschlungener dieser Weg gegen die ausgetrampelten Mainstreampfade erscheint, desto mehr
kann er beitragen zu alternativen Standortbestimmungen, ohne den historisch gewordenen
globalen Siegeszug einer westlich geprägten Kultur infrage zu stellen.
Die Neubesetzung des leeren Lesesaals durch verschiedene Bildfolgen aus der Toteninsel
der Moderne bringt ein Gegenmodell ans Licht, das den gesamten verqueren Prozess
des Scheiterns einer Utopie nochmals zu relativieren hilft: Gescheitert ist nur derjenige Teil
des hoffnungsgesteuerten Kontextes, der von vornherein auf eine bestimmte Gedächtnisleistung
verzichten zu können glaubte. Der andere, gedächtnisfordernde Teil aber, der gleichsam
vor diesem Scheitern bereits in einen wild verzweigten Untergrund abgerutscht ist, kann seine
Kräfte erst entfalten, nachdem sämtliche Möglichkeiten der relativierten Monade zugleich
verwirklicht und verspielt erscheinen. Dabei wird von der weltfernen Insel aus ein Weg in jene
vermeintlich beste aller möglichen Welten sichtbar, in der sich auf Schritt und Tritt jener Boden
verdoppelt, der gerade noch als einfacher Boden verdächtig war.
Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 217