Kein Schatten ohne Rauschen
Raimar Stange — Im Zusammenhang mit Deinem Projekt Les Messieurs d’Avignon sprichst Du von den »bösen Buben der Moderne«, die »nicht wegzudenken (sind) aus ihrer jeweiligen zeitlichen und räumlichen Umgebung, stehen sie doch in einem schwierigen und widerspruchsvollen Verhältnis zu jenem scheinbar stringent verlaufenden Fortschrittsmodell, das nach einem amtlich geglätteten Verständnis als die Moderne bezeichnet wird«. Kannst Du das bitte ein wenig erläutern, vielleicht auch an einem konkreten Beispiel eines der »bösen Buben«?
Michael Kunze — Das Wort »böse« ist natürlich nicht in einem
moralisch verurteilenden Sinn gemeint. Es bezeichnet eher das
Haar in der Suppe, den notwendigen Störfaktor in einem allzu
harmonisch ausgedachten System. Allenfalls ist hier eine Spitze
gegen jenes selbstgerecht und stur gewordene Gutmenschen-
Paradigma der 60er Jahre eingebaut, das nun schon mehr als
40 Jahre den Mainstream der westlichen Moderne prägt. Die
Unstimmigkeiten, historischen Irrtümer und ideologiebedingten
Lebenslügen, die diese Herrschaft zu einem nicht geringen Teil
kennzeichnen, stehen heute zur Debatte. Ich glaube, dass sich
hier für die nächsten Jahre und Jahrzehnte ein Paradigmenwechsel
ankündigt, der den Verlauf der Moderne in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts in Frage stellen und neu bewerten wird,
durchaus in dem radikalen Sinn, den Nietzsche in »Jenseits von
Gut und Böse« ausspricht: Was der Gutmensch »böse« nennt,
erweckt Sympathien, und umgekehrt.
In diesem Zusammenhang ist Martin Heidegger ein gutes
Beispiel für einen Störenfried. Durch seine Verwicklung in den
Faschismus ist er natürlich einerseits Persona non grata, – dummerweise
beruht aber ein wesentlicher Teil des modernen Denkens
von Sartre bis Derrida auf seiner Philosophie! Diese Irritation
wird von politisch korrekter Seite aus verbissen bekämpft, und je
mehr sie bekämpft wird, desto bedrohlicher wackelt der eigene
Boden. Der Störenfried kann nicht verdammt werden, ohne den
eigenen künstlichen Frieden zu gefährden. Auf Gedeih und Verderb
wirkt die Verbindung, und der Riss im scheinbar göttlichen
Plan lässt sich auf Dauer nicht verbergen.
RST — Du sprichst, so verstehe ich es, einen Begriff von Fortschritt und Aufklärung an, in dem – Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben es in ihrer Dialektik der Aufklärung bereits 1947 geschrieben – bestimmte »böse«, irrationale, emotionale etc. Momente wegrationalisiert werden. Dieses wird dann von Fortschritt und Aufklärung mit einem Verlust der »Beziehung auf Wahrheit« (ebenda) bezahlt und, um noch einmal Horkheimer/Adorno zu zitieren, der »Fortschritt schlägt in Rückschritt um. Daß der hygienische Fabrikraum und alles was dazu gehört, Volkswagen und Sportpalast, die Metaphysik stumpfsinnig liquidiert, wäre noch gleichgültig, aber dass sie im gesellschaftlichen Ganzen selbst zur Metaphysik werden, zum ideologischen Vorhang, hinter dem sich das reale Unheil zusammenzieht, ist nicht gleichgültig«. Wäre in diesem Sinne Dein Bilderzyklus so etwas wie ein Stück engagierte Gegenaufklärung, die versucht, diesen immer noch vorherrschenden ideologischen Vorhang des all zu Cleanen zur Seite zu schieben?
MK — Ein Teil des angekündigten Paradigmenwechsels hat bestimmt
damit zu tun. Dennoch meine ich, dass Horkheimer/Adorno
die kulturellen Phänomene zu konventionell bewerten.
Nietzsches Kritik an der Aufklärung und der dazugehörigen Moral
ist sehr viel weiter gegangen und scheint mir heute aktueller als
alles, was die Kritische Theorie dazu zu sagen hatte. Immerhin
aber bringen Horkheimer/Adorno ein entscheidendes Gleichnis in
die Debatte: Am Ursprung des abendländischen Menschen zwischen
Mythos und Aufklärung steht Odysseus, der sich an den
Schiffsmast fesseln lässt, um dem betörenden Gesang der Sirenen
nicht zu verfallen, ihn aber doch wenigstens zu hören. Die
Selbstfesselung des Odysseus als der erste Akt der europäischen
Aufklärung bedeutet hier die Entmachtung der mythischen Naturgewalt,
worin auch schon der Keim jener Entfremdung von sich
und der Welt enthalten ist, die der europäische Mensch seitdem
für seine List zu bezahlen hat. Gleichzeitig kommt hier zum ersten
Mal eine nicht nur rational, sondern auch ästhetisch motivierte
Distanz zur bedrohlichen Naturmacht ins Spiel. Die unglaubliche
Dichte dieses Gleichnisses, das tatsächlich all die Komponenten
enthält, deren gegenseitige Spannung schließlich zu der weltbeherrschenden
Stellung des europäischen »westlichen« Menschen
führte, ist kaum auflösbar: Rationalisierung des Mythos, Naturbeherrschung,
technologische Emanzipation, die Entfremdung von
den urtümlichen Mächten, die Trennung des Individuums von der
Gemeinschaft für den ästhetischen Bann, all dies sind die Urmotive
einer ersten europäischen Identitätsbildung und Abnabelung
von Asien. Seitdem ist das Denken damit beschäftigt, die Fesseln
des Odysseus entweder etwas zu lockern, oder doch wieder etwas
fester zu zurren: Wie könnte man Odysseus befreien, ohne
dass er doch wieder Opfer des Mythos wird? Wie könnte seine
Fesselung zum Teil einer anderen Natur werden, in der seine Entzweiung
von der Quelle des Verlangens doch wieder aufgehoben
wäre? Sind seine Fesseln golden oder eisern? Was ist an seiner
Distanzierung von der Naturmacht Illusion? Was bleibt an der verführerischen
Gewalt des Sirenengesangs unüberwindlich? Wo
trennt sich das »Schöne« vom Bedrohlichen?
Adorno/Horkheimer verbeißen sich im Folgenden im so
genannten »Verblendungszusammenhang«, den die Fesselung
des Odysseus als die Kehrseite des ersten aufklärerischen Impulses
mit sich bringt. Um der Gefahr neuer Mythenbildung in der
Entfremdung zu entkommen, sieht Adorno nur den Ausweg einer
beharrlichen Negativität. Das halte ich eher für eine schwache
Lösung. Nietzsche dagegen plädiert an dieser Stelle für eine Intensivierung
der ästhetischen Distanz zum Sirenengesang, verbunden mit einer fundamentalen Kritik an dem gesamten moralischen
Wertesystem jüdisch-christlicher Herkunft. Nietzsche
wittert in dieser Intensivierung die Befreiung eines neuen ȟbermenschlichen
« Typus, der über das bisherige nach-tragische
Wertesystem hinweg schreitet. Die Turbulenzen, die in dieser
Deutung stecken, sind das Thema, das meiner Meinung nach den
Nerv unserer Zeit trifft, und das die Messieurs d’Avignon als Vertreter
einer anderen Moderne im 20. Jahrhundert verbindet.
Mit einem neuen Verständnis dieser Zusammenhänge kann sich
etwas für die Zukunft entscheiden.
RST — Deine »bösen Buben« stellen also so etwas wie eine Ahnengalerie von »Ästheten« dar, die im Rahmen der von Dir ins Spiel gebrachten »Turbulenzen« künstlerisch und gedanklich experimentiert haben. Warum, das ist mir als Bassspieler selbstverständlich sofort aufgefallen, sind da Bildende Künstler, Philosophen, Filmregisseure und Schriftsteller, aber keine Musiker vertreten? Wären Richard Wagner oder Jim Morrison etwa nicht interessant in diesem Kontext? Und warum gibt es bei Dir keine »bösen Mädels«?
MK— Was die bösen Mädels betrifft, so hat die ganze Arbeit
ohnehin mit einer komplizierten Opposition der Geschlechter zu
tun: Die Frauen stehen im Sonnenlicht, die Männer wirken im
Schatten. Wahrscheinlich eine wohlwollende Umkehrung der beliebten
feministischen Kampfaufstellung. Fast alle der hier genannten
Protagonisten haben in irgendeiner Weise ein »Frauenproblem
«, von Nietzsche bis Houellebecq. Die einzige Stelle, an der
es zu einer einigermaßen natürlichen Begegnung zwischen Mann
und Frau kommt, ist der Kuss im Park von Antonionis Blow up,
und ausgerechnet diese Szene ist der Ausgangspunkt eines surrealen
Mordfalls: Der Mann liegt kurz darauf tot auf dem Rasen,
und die Frau, die den Mord vermutlich eingefädelt hat, wird zur
Geliebten des fotografierenden Zeugen, der trotz seines Bildes
im Dunklen tappt.
In der Liste der bedrohten Messieurs wären Richard Wagner,
Jim Morrison oder Frank Zappa sicher auch zu nennen, doch
es gab einfach technische Grenzen, die eine Konzentration auf
Bild und Text verlangten. Enzyklopädisch kann man sowieso nicht
vorgehen. Und »Ästheten« sehe ich hier übrigens nirgends am
Werk. Dieses eigentlich nichts sagende Wort (das Adjektiv ist
dagegen noch verwendbar) ist sowieso vergiftet von einer ungesunden
und alles verzerrenden Ideologisierung der Begriffe seit
den 60er Jahren, einem Kontext also, den ich ja gerade für obsolet
halte. Der »Ästhet« ist hier eine klar negativ besetzte Figur, die
in einem dämlichen Gegensatz stehen soll zum politisch integeren,
sozialkritischen, basisdemokratischen, antibildungsbürgerlichen,
kosmetisch revolutionären Überwinder der Kunst-und-
Leben-Schranke, – was für ein Blödsinn!
RST— Okay, dann reden wir jetzt halt über »Ästhetisches «: Du malst deine Messieurs d’Avignon mal als z. B. »reines«/»bloßes« (nach einem Foto gezeichnetes) Porträt, mal etwa eher als narrativ komplex aufgeladenes Ensemble. Kannst Du bitte einige Worte zu Deiner malerischen Strategie sagen? Und: Hast Du nicht Angst, gerade zur Zeit des angesagten Malerhypes (Frauen kommen da auch nicht vor), in die »Malerfalle« zu tappen, indem Du unfreiwillig die Faszination vieler BetrachterInnen an der altehrwürdigen »Königsdisziplin« Malerei befriedigst, statt ihr Interesse auf den konzeptionellen Kern Deiner Arbeit zu konzentrieren?
MK— Malerei als ein altes Medium unter neuen Medien, und als
ein möglicherweise sinnvolles Korrektiv neuer Medien, ist an und
für sich erst einmal nichts Negatives und auch nichts Positives, –
Königsdisziplin hin oder her. Die generelle Negativ-Bewertung
von Malerei dagegen stammt wiederum, und noch immer aus
jenem überholten Konsens der letzten vierzig Jahre, in der eine
Ideologisierung aller kulturellen Bereiche u.a. ja auch schon jenen
Deppentypus des »Ästheten« erfand (der in der Kunst natürlich
vornehmlich Malerei gut finden sollte). Man kann nicht oft genug
sagen, dass alle Wertmaßstäbe und dogmatischen Verkleisterungen,
die aus dieser Phase einer »amtlich« gewordenen Moderne
stammen, abzulehnen sind. Man muss das alles in Frage stellen,
so grundsätzlich wie es nur geht.
Dennoch hast Du natürlich recht, wenn Du da eine »Falle«
siehst. Diese Falle besteht für alle künstlerisch relevanten Medien,
und ich würde sie eher die »Selbstbezüglichkeitsfalle« oder
»Formalismusfalle« nennen. Diese existiert ebenfalls aufgrund
eines amtlich-modernen Paradigmas, nämlich aufgrund der irrigen
Maxime, dass die höchste Form der Bezüglichkeit der Selbstbezug
ist, also »Die Form ist der Inhalt«, »The medium is the message
«, etc. Das ist Unsinn, und nichts als Idealismus im Stadium
der Verzweiflung. Bildnerisch führt das sowieso nur in die Wüste,
in der wir dank der gleichgesinnten architektonischen Verödung
der 60er und 70erJahre (»Ornament ist ein Verbrechen«) heute
täglich leiden dürfen. Es ist typisch, dass gerade auf diesem Gipfel
der Blindheit und der pseudo-antiästhetischen Begriffsverwirrung
die Verbindung von »Kunst und Leben« zum Ideal wurde.
Gegen diesen Kontext gesprochen gilt dennoch für alle
Medien, wie auch für Malerei heute: Malerei, die nur lecker sein
will und nur sich selbst genügen will, ist überflüssig. Entscheidend
ist dagegen der Einschluss einer textuellen Ebene, die über
die formalen Grenzen hinausführt, altmodisch gesprochen ein
»Inhalt«, der sich auf Anderes bezieht als auf das Medium und
das Selbst. Malerei muss wieder ein Mittel werden, und herrauskommen
aus der Falle des Zweckhaften. Nur in der Anwendung
kann sich ein Medium bewähren, nicht im Selbstbezug. Erst dann
kann das Erscheinungsbild von mir aus auch virtuos und feierlich
sein, wie es z.B. in der alter Malerei ganz selbstverständlich war.
Bleibt die textuelle Ebene aber leer, ziehe ich Minimal Art vor.
Im Fall der hier vorgestellten Genealogie steht die Malerei im
Dienst der Interpretation einer programmatischen Gesamtidee:
Das zugrunde liegende Fotomaterial, das in der malerischen Umsetzung
z.T. starke Eingriffe erfährt, könnte ohne diese Umsetzung
nichts hergeben, das zur Herstellung des beabsichtigten
Panoramas ausreichen würde. Gerade aufgrund der historisch
tief reichenden Wurzeln, um die es hier ja teilweise wirklich geht,
ist das Medium Malerei, das über diese Wurzeln eben verfügt,
das geeignete Mittel.
RST — Ich teile Deine Kritik an einem in-sich-leerlaufenden Formalismus voll und ganz. Da, man sehe nur die Arbeiten von Tomma Abts oder Anselm Reyle, wird nichts als abstrakte »Hotelbildmalerei« (Th. W. Adorno) produziert, weil diese Arbeiten jedweden Bezug auf eine (kritische) gesellschaftliche Praxis ablehnen. Dies aber war noch bei der formalen Abstraktion der frühen Moderne, auf die sich der Formalismus unserer Tage so gerne, aber letztlich scheinheilig bezieht, explizit Programm. Es lohnt sich in diesem Kontext immer noch z.B. die (revolutionären) Schriften des Bauhauses (wieder) zu lesen. Du allerdings lehnst eine Verknüpfung von »Kunst und Leben« als falsch verstandenen Idealismus ab. Warum?
MK— Der Komplex, dass hier ein Spalt im Bewusstsein des europäisch
geprägten Zeitgenossen vorliegt, trifft schon etwas Richtiges,
und das ist spätestens seit der Fesselung des Odysseus ein
Thema. Doch die Art und Weise, wie im Verlauf der späteren Moderne
diese Sache beim Wort genommen wurde, hat eben einerseits
in die hier besprochenen begrifflichen Aporien geführt, die
heute zum Zerfall des ganzen Paradigmas beitragen, – und hat
andererseits zu all den peinlichen Vereinnahmungen und Belästigungen
eines vermeintlich animationsbedürftigen Publikums geführt,
womit eine tatsächlich vorhandene Spannung ins Infantile
umgedeutet wurde. So gesehen war die Essenz der gesamten
Kunst der 60er und 70er Jahre ein einziger groß angelegter Aufruf
zum Kontakt-Krabbeln. Ich würde dagegen das setzen, was
Nietzsche als »Pathos der Distanz« ansagte, oder was Gottfried
Benn so aussprach: »Halte Dich fern von Deinem Nächsten!«
Man kann in diesem Sinn gar nicht genug Abstand nehmen! Es
handelt sich hier exakt um das Gegenprojekt zu jenem von mir so
vielfach abgelehnten, soziokulturell durchsetzten Konsens des
spätmodernen Mainstream, und gleichzeitig handelt es sich dennoch
um einen Teil der Moderne selbst, die wenigstens hier ihren
Schatten nicht los wird. Vertikale, hierarchische, auf den Unterschied
setzende Strukturen treffen auf horizontale und gleichmacherische
Strukturen. Von diesem Punkt aus kann man wiederum
auf den Ursprung solcher Kontroversen, nämlich den gefesselten
Odysseus zurückkommen: Man übersieht eben, dass sich Odysseus
nicht nur zum Spaß an den Mast hat binden lassen, sondern
um zu überleben. Die Fesseln lassen sich nicht einfach lösen, und
dann wird alles gut. Sie sind die Bedingung einer zu steigernden
Wahrnehmung. Und die möglichst unüberwindliche Distanz ist
die Bedingung für die Transformation der ganzen Situation. Deshalb
ist der Abstand nicht nur auszuhalten, sondern auf die Spitze
zu treiben.
Somit ist es nur noch mangelnder Respekt, wenn mir ein
Künstler interaktiv auf die Pelle rücken will, um mich wohltätig
aus meinem Gefängnis zu befreien. Noch dazu handelt es sich
dabei um eine vollständige Fehleinschätzung jedes zwangsweise
ästhetischen Verhaltens: Auch die eingehende Betrachtung eines
Raffael-Bildes ist interaktiv. »Kunst und Leben« ist hier nur für
ideologisch Verwirrte etwas Getrenntes. Man braucht nur einmal
eine Wagner-Oper zu besuchen, um festzustellen, dass das Publikum
da mindestens so mitgehen kann wie ein anderes Publikum
in einem Metallica-Konzert. Der einzige Unterschied ist dann nur,
dass die einen sich weniger schütteln als die anderen.
RST— Als ich über die Beziehung von »Kunst und Leben« sprach, da dachte ich, angesichts vom Bauhaus z. B., an einen »Bezug (der Kunst) auf eine (kritische) gesellschaftliche Praxis«, und dies ist etwas anderes als kuschelige Interaktivität (die so kuschelig, man denke etwa an Liam Gillick, Rirkrit Tiravanija oder Santiago Sierra, ja auch nicht immer ist). Wie sähe nun angesichts Deiner Arbeit ein adäquates Sich-Einlassen aus? Du spielst ja, denke ich, bewusst auch mit quasi »verbotenen Früchten«, also mit von Dir porträtierten Personen (Martin Heidegger, Ernst Jünger), denen, mehr oder weniger zu recht, eine Nähe zum Faschismus vorgeworfen wird. Soll dieses polemische Moment den Betrachter schlicht provozieren oder steckt anderes dahinter?
MK — Natürlich übertreibe und verallgemeinere ich um der lieben
Polemik willen, und wie immer darf gelten: Alle Ausnahmen
bestätigen alle Regeln! Ob mir jemand im Museum eine Rückenmassage
anbietet, oder ob einer ernsthaft sozialkritisch die Galerie
unter Wasser setzt, das gehört doch beides in den bewährten
interaktiven Unterhaltungszirkus, da sehe ich nur einen graduellen
Unterschied, keinen prinzipiellen. Also: Kein Selbstbezug, kein
Kuscheln, und nicht einmal eine Galerie unter Wasser! – Was
denn dann eigentlich? Vielleicht beginnt mein Versuch, ins Gesellschaftliche
einzugreifen, erst da, wo der ganze Kontext, in dem
z.B. diese drei Möglichkeiten fast alternativlos erscheinen, in
Frage zu stellen ist. Es geht darum, an einem Selbstverständnis
zu rütteln, dessen Absolutismus mittlerweile in einem nicht mehr
haltbaren Widerspruch zu dem Relativismus steht, den es nach
innen verspricht. Der Motor dieses Selbstverständnisses ist ein
subtil gleichmacherisches Mahlwerk, das nach und nach alle Differenzen
der Menschen und Kulturen auflöst, bis die Welt ein einziger,
überall gleich aussehender Kaugummi geworden ist. Für
viele mag dieses Ende aller Mündigkeit und Evolution, der finale
graue Brei unausweichlich scheinen, – Kritik muss trotzdem auch
hier möglich sein, und die hat dann wohl mit dem Entwurf einer
Moderne »jenseits von Karl Marx und Coca-Cola« zu tun. Was
noch zu Beginn der 60er Jahre unter dem leuchtenden Logo
»Pop« rebellisch wirken konnte, das hat sich immer mehr zum
Beschleuniger eines identitätslosen Konsummonadentums entwickelt,
und die ersehnte Diktatur des Proletariats wurde schließlich
umgesetzt z.B. durch die Macher von »Deutschland sucht
den Superstar«. Hier sind endlich die Maximen realisiert, die 40
Jahre zuvor noch für sozialen Sprengstoff sorgten: Jeder kann es!
Jeder darf es! Niemand braucht Talent! Du musst es nur wagen!
Was aber dabei herauskommt, kann ja nur noch eine Art Karaoke
für Minderbemittelte sein, das 68er-Paradigma, gepaart mit maximaler
Einschaltquote. Der zu befreiende Knecht, den man so
lange für den Schlüssel der Weltgeschichte hielt, hat sich nach
seiner Befreiung eben doch nicht als die ersehnte Mischung aus
Sokrates, Jesus Christus und Jim Morrison erwiesen, sondern
eher als ein gut verdienender Dieter Bohlen.
Gegen all diese Zusammenhänge Argumente zu liefern,
mit Bild, Text, Film, Rede, egal wie, ist meiner Meinung nach die
einzige Möglichkeit, in der heutigen Gesellschaft wirklich kritisch
aufzutreten. Was dann im Einzelfall das Provozierende ist, wird
von Parteien und von Details entschieden. Die zugemauerte Galerie
hingegen provoziert eigentlich niemanden und kritisiert auch
nichts mehr, denn sie erfüllt schon längst Erwartungen.
RST — Ich glaube ja auch, dass die Hoffnungen der 90er Jahre Kunst, Crossover etc., leider Hoffnungen geblieben sind. Dass dann z. B. wieder quasi »einfach nur Bilder« auftreten, um Alternativen anzubieten, finde ich auch verständlich. Aber, und nun mit meiner letzten Frage konkret zurück zu Deiner Arbeit, ist diese Strategie nicht bereits viel länger schon eingemeindet in den (bildungsbürgerlichen) Kunstbetrieb und somit ihrer kritischen Spitze ebenfalls beraubt?
MK — Die Frage nach dem Medium ist einfach gleichgültig, weil
sie sich immer nur im Kreis bewegt. Das versuchte Crossover der
90er Jahre war ja vielleicht die letzte Etappe jenes gleichmacherischen
Impulses, in dem das Rahmen-Sprengen und GrenzenÜberschreiten
zur Geste erstarrt ist, denn die Rahmen rahmten
schon lange nichts mehr, die Grenzen begrenzten im Multikulti-
Einerlei auch nichts mehr, und die leere Negation kann dann nur
noch eine Verschiebung des L‘art-pour-l‘art-Problems bringen.
Wenn man es mit dem Kritischen ernst meint, dann spielt
ausschließlich Inhaltliches eine Rolle. In meinem Fall eben die
Aushebelung eines öde gewordenen Paradigmas. Das kann mit
Bildprogrammen beginnen, aber von mir aus auch mit einer Gewehrsalve,
einer Massenhypnose oder der Heiligsprechung des
Marquis de Sade durch die Katholische Kirche. Egal wie! Vielleicht
geht es einfach um eine Wiedergewinnung starker europäischer
Identität, um »Kulturkampf« (wenn das Wort nicht schon
wieder so beschädigt wäre): Also etwas mehr Fesseln des Odysseus,
und etwas weniger Dieter Bohlen. Die Städte müssen dann
zu riesigen mausoleums-artigen Gebilden werden, mit Säulenhallen,
zwischen denen die Flugzeuge fliegen, mit antennnenbeladenen
Opferschalen, von denen Rauchsäulen bis in die Stratosphäre
aufsteigen, mit olympischen Göttern zwischen den Ebenen,
mit waldigen Gärten in schwindelnder Höhe, die schon im
Abendlicht stehen, wenn an den Fundamenten erst der Morgen
anbricht, in der Luft die Spuren eines Dionysos, der aus Asien
zurückgekehrt ist, nachdem die Menschheit endlich die Geisel
des jüdisch-christlich-islamischen Monotheismus abgeschüttelt
hat, mitsamt der ganzen heillosen Erlösermoral, – keine Deckenhöhe
in keinem Haus mehr unter 10 Metern, die Eingänge getragen
von Atlanten aus Granit, die Kunst antikisiert, monumental,
und dennoch auf allen Skalen des Psychologischen spielend,
längst überholt die wirren Ideale der Französischen Revolution
(Freiheit? – Unmöglich!, Gleichheit? – Eine Katastrophe!, Brüderlichkeit?
– Nicht solange noch Evolution sein soll!), weltweit wird
der Englisch-Unterricht durch Altgriechisch ersetzt, statt Sozialkunde
und Ethik werden Tragödien studiert, der Wissenschaft
und dem technologischen Fortschritt werden keine Grenzen mehr
gesetzt, W-Lan in der ganzen Milchstraße, Piranesi-hafte Durchblicke
auf Triumphbögen, die in den Wolken verschwinden, hinter
denen wieder neue Welten warten, die erobert werden wollen,
und noch weitere Distanzen, die erdacht werden wollen, usw. –
Das wäre doch Crossover! Damit ist auch ein Hinweis auf meine
eigenen Fesseln gegeben: Solange ich nicht mehr Mittel zur Verfügung
habe, bin ich eben gezwungen, auf kleinen Leinwänden
Programme zu erstellen. Doch lieber würde ich große Bauaufträge
annehmen, bei denen Millionen von Arbeitern und Maschinen
Tag und Nacht zum Einsatz kämen. – Doch nichts von alledem
muss eintreffen, es reicht schon, wenn sich so einige perspektivische
Verlängerungen kleiner Unebenheiten zeigen, die ein
wahrscheinlich belangloser Moment in einer diffusen Gegenwart
enthalten mag. Was dabei »Kunst« genannt werden kann, ist
nicht wichtig.
Das Gespräch fand im Dezember 2006 per E-Mail statt.