Les Messieurs d’Avignon

Die bösen Buben der Moderne, die hier als Les Messieurs d’Avignon versammelt sind, befinden sich auf unterschiedliche Weise in einer prominenten Abseitsposition: Einerseits nicht wegzudenken aus ihrer jeweiligen zeitlichen und räumlichen Umgebung, stehen sie doch in einem schwierigen und widerspruchsvollen Verhältnis zu jenem scheinbar stringent verlaufenden Fortschrittsmodell, das nach einem amtlich geglätteten Verständnis als die Epoche der Moderne bezeichnet wird. Böse meint hier: In gewisser Weise das Schema unterlaufend. Der Widerspruch ist das gemeinsame Thema der hier vorgestellten Versammlung, während ihr historischer Anlass die bald offenkundige Unhaltbarkeit all der frisierten Begriffe und Auslassungen ist, die das Zeitalter bis heute kennzeichnen und verzerren. Der Versammlungsort der Messieurs wiederum verweist auf eine markante Stelle der Erzählung, die schon von Beginn an nicht nur die Ideologiefalle erkennen lässt, sondern auch die grundsätzliche Missverständlichkeit all jener historischen Umstände enthält, die später einmal Bedingungen heißen sollen.

      Ein Urbild jenes problematisch gewordenen Begriffs von Moderne ist Picassos Les Demoiselles d’Avignon aus dem Jahr 1907. Der bekannte Reigen der Avantgarden, dessen schlüssige Abfolge bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts reichen sollte, hat hier einen seiner vielversprechenden Ausgangspunkte. Doch es handelt sich mit dieser Darstellung um eine Konstruktion, die für ihr eigenes Selbstverständnis eine andere, düstere und weniger griffige Seite des Geschehens ausblendet, auf der sich durch das ganze Jahrhundert hindurch ein untergründiges und zur Hermetik neigendes Parallelleben entfaltete, das fortan aus tief verzweigten Wurzeln auf die Gegenwart wirkte, oft ohne überhaupt bemerkt zu werden. Die Trennung in einen offenbaren und in einen verdrängten Teil der Geschichte wird z.B. in der Bildenden Kunst an der Epochenschwelle bereits mit der unterschiedlichen Rezeption der Zeitgenossen Cezanne und Böcklin vollzogen. Während von Cezanne aus die amtliche Entwicklung herleitbar wird, mit all den vertrauten Schritten von der Abstraktion bis zum reinen Konzept, führen die Fäden, die von Böcklin aus zu spinnen sind, auf weitaus unwegsameres Gelände: Hier geht es seitdem eher um Einzelpositionen als um Stilrichtungen. Die beiden Säulen der Moderne insgesamt, Aufklärung und Romantik, sind mit dem Verdrängungsprozess in ein undurchsichtiges Verhältnis geraten.

       Angesichts der kubistisch analysierten Frauenkörper im Sonnenlicht fällt somit eine Abwesenheit auf, die zunächst einfach als eine Abwesenheit von Männern erscheint, bei weiterer Deutung aber die Aufmerksamkeit auf eine Schattenlinie der Moderne lenkt, deren Protagonisten jetzt zu sprechen beginnen: Von der unübersehbaren Absenz zur verspäteten Rückmeldung. Sie führen einen labyrinthischen, mythennahen, eurokontinental geprägten Bild- und Denkbegriff fort, in dem es keine lineare Entwicklung gibt, und in dem alle logischen oder pragmatischen Übereinkünfte einen unzugänglichen Kern enthalten, der den common sense jederzeit auflösen und in sein Gegenteil verkehren kann. Natürlich gibt es auf dieser Schattenlinie keine politische Korrektheit, keine gesellschaftlichen Gesamtlosungen und keine verlässliche Moral. Die Wurzeln hierfür liegen in der europäischen Antike, in der statt weltverneinender monotheistischer Jenseitsverheißungen eine gefeierte mysteriöse Diesseitigkeit und die phantastische Weltlichkeit alles Übersinnlichen zur Entfaltung eines Gottmenschentums führte, dessen Bilderfülle und weltergreifende Kraft nie mehr ganz in Vergessenheit geraten ist: Trotz des »Sklavenaufstands« des Christentums, trotz aller ideologiebedingten Bilderstürme, trotz Protestantismus, trotz Französischer Revolution und der hierauf beruhenden sozialen Bewegungen der Moderne, die in der vergangenen Pracht immer nur Chaos, Anarchie und schreckliches Schicksal fürchtete. Eine Befürchtung, die angesichts der wild gewordenen Dialektik der Aufklärung im 20. Jahrhundert den Freud’schen Versprecher beinahe zum historischen Urphänomen erhebt. Postmetaphysische Melancholie, Vaterhärte, Rutschgefahr, und immer wieder unglaubliche Ausblicke, all dies sind Elemente, die eine Verwandtschaft zwischen den Messieurs erzeugen, sei es in den beschwörenden kulturkritischen Prognosen Nietzsches, in den magischen Fluchten de Chiricos, in den verspiegelten Wendungen der Lyrik Stefan Georges, in der Herausforderung des Absurden bei Camus, in den Zeitstillstandsextasen Heideggers, in den schicksals- und geschichtsverwobenen Filmen eines Pasolini, Antonioni oder Bergman, bis hin zu den Unterhöhlungen sozialutopischer Thesen der Spätmoderne in den Romanpamphleten Houellebecqs. Der nach angloamerikanischen Maßstäben nicht-unterhaltsame, nichtinformative und nur schwer instrumentalisierbare Bild- und Gedankenschatz dieser Autoren beschreibt einen Horizont, der heute für das Modell einer Moderne jenseits von Karl Marx und Coca-Cola maßgeblich werden kann.

       Die bisher gängigen politischen Ausrichtungen – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher von einem geistesaristokratischen, identitätsbetonenden Ideal inspiriert, in der zweiten Hälfte eher einer relativistischen, identitätsverneinenden Struktur zuneigend – sind außer Kraft gesetzt. Weder Geniekult als Behauptung, noch Massenbefriedigung auf kleinstem gemeinsamen Nenner können noch überzeugen. Erhabenheit als leere Geste gegen Kontextualisierung bis zur Selbstverleugnung, Themenkitsch gegen Interaktivitätskitsch, Elfenbeinturm gegen Pop- Seligkeit, – es handelt sich immer um Ausreden. Was Nietzsche mit seiner Forderung nach einem Pathos der Distanz gegen die demokratische Nivellierung aussprach, und womit er zugunsten der darwinistischen Differenz als geschichtsantreibender Kraft eine schwache Kultur des Ressentiments anklagte, hat neue Brisanz erlangt, – was am Beispiel der antiken Heroen- und Elitekultur, des Renaissancefürsten Machiavellis, des Leviathan von Hobbes, und des modernen Dilemmas einer Definition von Elite überhaupt die Gemüter erhitzt. Aber nicht nur in dieser Zuspitzung taucht mit den Messieurs d’Avignon die Frage auf, welche Rolle eine aus scheinbar zeitlosen, archaischen Gründen schöpfende poetische und bildnerische Macht spielen kann, die in ein Umfeld permanenter technologischer Innovation versetzt ist. Am Ansatzpunkt dieser Frage, in der sich heute nihilistische und fundamentalistische Strömungen ohne absprechbare Vorfahrten kreuzen, wird sich die Zukunft eines Ideals entscheiden, das von den Möglichkeiten seiner ästhetischen Verschlüsselung lebt. Ein Ideal, das ohne diese Möglichkeiten auskommen soll, kann es nicht geben, das hat die im Big-Brother-Format verendete Kulturrevolution des 68er-Paradigmas gezeigt. So wie die Anfänge eines ersten verbindlichen Wortes verblasst sind, müssen auch dessen Enden verblassen.

      Der Schatten, der die Dämmerung dieser Fragestellung begleitet, stellt die Hoffnung dar, in der die zweifelhafte Genealogie einer vermeintlich anti-modernen Moderne ihr Überleben sicherte, ganz im Sinn eines Widerspruchs, der aus lebensnotwendigen Gründen nicht auflösbar ist. Der aktuell präzisierte Widerspruch, in dem sich der Paradigmenwechsel ankündigt, ist das offene Anliegen der Messieurs d’Avignon, die es zu beerben gilt, trotz oder weil deren Testament aufgrund irreführender Vereinnahmungen nicht vorliegt.

      In Picassos Vorstudien zu den Demoiselles d’Avignon befinden sich in der Mitte zwischen den fünf entkleideten Frauen ein Matrose und ein Medizinstudent – potentielle Bordellbesucher. Vielleicht mussten sie aus Anstandsgründen das Bild verlassen, vielleicht aus ästhetischen Gründen. Vielleicht auch schlummert in der Trennung von Demoiselles und Messieurs eine Geschlechterproblematik, die zum Teil der historischen Verdrängungsprozesse geworden ist. Je mehr schließlich die reine Frauengesellschaft zur Chimäre wird, desto deutlicher treten die Leerstellen ins Bewusstsein, die neu zu besetzen sind. Aber sollten sich nur Historiker um die Bedeutung der Ausstreichung streiten? Die dekonstruktivistische Auflösung von Autor und Text war eine bequeme Illusion, die neue Antworten von neuen Autoren verlangt. Wer involviert ist, weiß, dass die Geschlechter von selbst ihre Rolle finden, mit oder ohne Bordell.

      Die neue Begegnung zwischen den Männern und Frauen nicht nur aus Avignon wird in einer ruinösen südlichen Landschaft stattfinden, freiwillig oder gewaltsam. Ein kalter Wind wird über die Pinien wehen. Einzelne Kleidungsstücke verwirrter Schatzsucher werden im verdorrten Gras liegen, an einem Abhang, der unter dem wechselnden Licht der ziehenden Wolken blinken wird. Weit unten am Meer, wo einst Piraten an Land gingen, wird ein mit Steinen beschwertes Tuch zu finden sein, das ein siegreiches Paar zum Zeichen aller verlorenen Kämpfe hinterließ, die zwischen den gestrandeten Hoffnungsträgern eines neuen Lebens ausgefochten wurden. Auf dem Tuch wird ein ausgezeichneter Wanderer einen Lageplan finden, aus dem Sirenen gerade die Stelle herausrissen, die hier sein sollte: Jetzt! Genau in diesem Augenblick wird ein Luftzug dem Stutzenden etwas Blasses und Unleserliches entreißen, einen Fetzen, den er noch gerade mit den Fingern berührte, als er dachte, dass da etwas nicht mehr oder noch nicht vollständig ist. Er wird versuchen, die tanzende Leerstelle über seinem Kopf zu verfolgen und dabei von der Sonne geblendet werden, so dass er seine Hand vor seine Augen halten muß, von der er sich wünschen wird, dass es eine andere Hand wäre. Welche Hand? Das wird auf einem anderen Blatt stehen, das er in keinem Sturm loslassen wird, solange er nicht weiß, dass es sich längst in seinem Besitz befindet. Alle Reichtümer, die rings um ihn in den Felsspalten versteckt wurden, würde er gegen diesen Besitz nicht eintauschen, der ihm am nächsten und fernsten zugleich ist: Am nächsten dann, wenn er das Tuch zusammenrollen möchte, weil er selbst es hier verloren hatte, und am fernsten, wenn er es liegen lässt, weil das Paar, das hier lag, bald zurückkommen wird. Ein Rauschen wird über Land und Wasser gehen, wenn sein Blick sich auf den schwarzweißen Horizont richten wird, um Ausschau zu halten nach dem verabredeten Zeichen. Und eine Atempause wird gleich darauf die Luft erfüllen, wenn er sich wieder den kahlen Hängen zuwenden wird, deren Schatten Erinnerungen wecken an Schnee im Gesicht. Er wird die Distelblüte abwarten, und er wird wissen, dass es keine Leere gibt, und kein verlassenes Gemäuer. Was geschieht, wird auf Verdacht geschehen. Doch wer hat überhaupt einen Verdacht geäußert?, – wird sich der Wanderer fragen, wenn er mit dem Ufer im Rücken seinen Weg findet.


Les Messieurs d’Avignon, Köln 2007, S. 09