Meursaults Tat, Paolos Theorie
Der Wind pfeift durch das leere und unerreichbare Gitterfenster eines Ateliers, das keinen Innenraum
mehr von einem Außenraum abgrenzt. Zwischen ruinösem Monument und improvisierter
Konstruktion befindet sich ein Arbeitsplatz, an dem niemand zu sehen ist – vielleicht
ist gerade Pause.
Während der Abwesenheit des anonymen Künstlers ereignet sich – zufällig oder nicht
– an einem nordafrikanischen Strand in der Nähe der antiken Ruinenstadt Tipasa ein Mord
ohne erkennbares Motiv. Meursault, der diesen Mord als »der Fremde« in Albert Camus’ gleichnamiger
Erzählung (1942) begeht, kann als einzige Begründung seiner Tat das Licht nennen,
das ihn zufällig auf der Messerspitze seines Opfers blendete. Die Gleichgültigkeit und Leere,
die er der Welt und sich selbst gegenüber empfindet, scheinen in der gleichsam willenlos vollzogenen
Tat einen Ausdruck zu finden, der paradoxerweise ebendiese Gleichgültigkeit in ein
existenzialistisches Pathos versetzt, das die gesamte Erzählung prägt. Die karge Landschaft, das
südliche Licht, das beziehungslose Miteinander unendlich weit voneinander entfernter Menschen,
alles dies verdichtet sich in einer wie beiläufig beschworenen archaischen Kompaktheit
zur Revolte gegen den nihilistischen Grund eines Lebens, das nur noch in der Anerkennung
dieses nihilistischen Grundes auszuhalten ist.
REVOLTE? Da klingelt es nicht nur im leeren Atelier, sondern auch bei dem Schöpfer
Meursaults selbst, der im gleichen Jahr wie seine Erzählung »Der Fremde« auch seinen Essay
»Der Mythos des Sisyphos« publizierte. Sisyphos war ihm das geheime Vorbild aller existenziell
desillusionierten Nihilisten: Die unnütze und aussichtslose Arbeit des Sisyphos als dem auserwählten
Stuntman der Moderne führt ihn gerade nicht zur Resignation vor seinem Schicksal,
sondern zur Bejahung von dessen Absurdität. Das Leid muss ertragen werden, gerade weil
kein Sinn, kein Gott und kein ausgleichendes Jenseits dahintersteckt. Die Todesverachtung
Meursaults, die noch vor der eigenen Hinrichtung seine Gleichgültigkeit als die größtmögliche
Gotteslästerung erscheinen lässt, ist zugleich das pathetisch aufgeladene Hintergrundmotiv der
ewigen Arbeit des Sisyphos, der es gelernt hat, das Absurde nicht mehr als die Entfremdung
seiner Illusionen zu begreifen.
Nach Meursaults Hinrichtung wäre folglich der Fremde nicht aus der Welt, obwohl
das so monumentale wie unbenutzbare Atelier des vermeintlichen Verächters immer noch leer
steht: Der Fremde taucht in einer überraschenden Verwandlung in Pier Paolo Pasolinis »Teorema
– Geometrie der Liebe« (1968) wieder auf, diesmal als namenloser Gast in einer bürgerlichen
Familie. Er fungiert hier als ein gleichsam gottgesandter Erlöser, der das in Gleichgültigkeit und
Lethargie erstarrte Leben der Familie aufbricht, indem er mit jedem einzelnen Familienmitglied
eine kurze Liebesaffäre eingeht, um dann genauso unvermittelt zu verschwinden, wie er
gekommen ist. Wieder auf sich gestellt, verlassen dann alle Protagonisten der Familie ihre bisherige,
in Gewohnheiten betäubte Lebensbahn, damit – jeder für sich – auf den eigentlichen
Grund seines Daseins komme: Der Vater (Paolo) verschenkt seine Fabrik an seine Arbeiter, die
Mutter prostituiert sich, der Sohn wird zum Künstler, die Hausangestellte zu einer im Himmel
schwebenden Heiligen etc. Als hätte sich das blendende Licht auf des Messers Schneide kurz
bewegt, scheint hier das Motiv der Indifferenz auf der anderen Seite des Sisyphosweges wieder
aufzutauchen: nicht als Ausgangslage zur Hinnahme einer absurd grundierten Freiheit, sondern
als das Endresultat eines durch ausgehöhlte Rituale wertlos gewordenen Lebens, in das ein
fremder Heilsbringer erneut Sinn und Illusion einflößen muss. Damit die Geschichte von Neuem
beginne! Meursaults Fall und Paolos Theorie gehen hier eine Verbindung ein, die dem vom
Berg rollenden Fels erst seine historische und metaphysische Notwendigkeit gibt: Während die
Indifferenz vor der möglichen Handlung zu deren historischer Nichtigkeit führt, verleiht die Indifferenz,
die das Ende all dieser möglichen Handlungen bedeutet, der scheinbar planlosen Tat
ihre metaphysische Fülle. Für einen kurzen Moment berühren sich hier Pathos und Apathie als
die gegensätzlichen Seiten einer Verfassung, die nur der Ablauf eines perspektivlosen, immer
gleich bleibenden Arbeitstages unterscheidet.
Ob der abwesende Künstler gerade auf den Spuren Meursaults oder Paolos unterwegs
ist, dürfen diejenigen entscheiden, die gerade auf gleichgültiger Bahn einem Faden folgen
müssen oder einen Fels rollen hören. Sie dürfen auch bestimmen, ob die wahrgenommene
Abwesenheit einer vielleicht niemals anwesenden Figur dem Klischee nach als besonders bedeutungsvoll
oder als besonders belanglos zu bewerten ist. Immerhin lässt sich während dieser
Entscheidungsfindung schon feststellen, dass der verlassene Raum als der Arbeitsplatz eines
selbst- oder fremdernannten Sisyphos die Kerkervisionen eines Giovanni Battista Piranesi so
weit fortsetzt, dass der Gefangene sich gleichsam unwissentlich auch einmal im Freien aufhalten
kann – ohne dass dadurch gleich der Gesamtzusammenhang zwischen unendlichem
Innenraum, ewiger Arbeit, grundloser Freiheit etc. infrage gestellt wäre.
Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 93