Rappel à l’ordre
Über Michael Kunzes speziellen Ordnungsruf Les Messieurs d’Avignon

—Rainer Metzger

International Style
Das Schönste an Tirana ist die Biennale. Das Schönste an Istanbul ist die Biennale. Das Schönste an Berlin ist die Biennale. Das Schönste an Taipeh ist die Biennale. Das Schönste an Sao Paulo und Venedig ist sowieso die Biennale. Und wer noch nichts Schönes hat, ist mehr und mehr besorgt, es sich zu besorgen. Flugs engagiert man sich Agenten, nennt sie Kuratoren und lässt sie organisieren, was sie immer schon in petto hatten, einen dem Clubbing abgelauschten Schauplatz, eine Künstlerliste, die seit Jahr und Tag feststeht, und ein Motto, das das Lokalkolorit längst mit dem Klischee getauscht hat. Wenn der Kuratorenperson dann zu Wien Wittgenstein eingefallen ist und zu Buenos Aires Borges, dann ist das weltweite Programm des International Style ganz bei sich. Der Unterschied des Kurators zum Touristen ergibt sich allein aus der Quantität: Letztere sind zahlreicher.

       Die Kunstvertreterei kleidet sich dabei gern in eine besonders drastische, weil von der Bedrohung schwärmende und das Authentische forcierende Metapher: Man wirft sich auf zum Nomadentum. Die jettende Existenz allerdings ist keineswegs vom Hunger bedroht, und die Wasserstelle in einigen Kilometern hat prinzipiell eine andere Dimension der Notwendigkeit als der nächste Internet-Anschluß. Den Hirten und Herden ist es von vornherein gerade nicht einerlei, wo sie sich befinden. Ihr Blick ist streng justiert auf die Möglichkeiten vor Ort und damit das Gegenteil jener Diffusion, dem der Kunstbetrieb in seiner uniformen Beflissenheit das Forum gibt. Ortsspezifik, der berühmte Schwanengesang aus den Achtzigern, ist längst verhallt.

Hommage
Unter dem Oberbegriff Les messieurs d’Avignon hat Michael Kunze eine Ahnengalerie von Malern, Literaten und Regisseuren zusammengestellt, die ihm exemplarisch erscheinen in ihrer Widerspenstigkeit gegen den Mainstream, die Geradlinigkeit und die Managermentalität der kulturellen Gegenwart. Zwar ist Picasso einer dieser Codenamen, die jeder memoriert, wenn er es weltumspannend ästhetisch meint, und hat sein Demoiselles d’Avignon, wie es heute im Museum of Modern Art hängt, die klassische Karriere eines Global Player hinter sich gebracht. Doch Doch setzt sich Kunzes Versammlung ausschließlich aus Vertretern der White Males zusammen, und die damit verbundene Absage an die Affirmative Action kokettiert schon mit dem Skandalösen. Zudem ist sie französisch betitelt, und eine Sprache, die statt Computer »Ordinateur« sagt, hat ihrerseits etwas Widersetzliches. Und Kunzes 60 Bilder starke Serie aus dem Leben von infamen Menschen setzt darüberhinaus auf ein ebenso starkes wie längst ad acta gelegtes Prinzip: Sie ist eine Hommage.

       »Stark fühlt sich, wer die Bilder findet, die seine Erfahrung braucht. Es sind mehrere – allzuviele können es nicht sein, denn ihr Sinn ist es, daß sie die Wirklichkeit gesammelt halten.« Elias Canetti hat das geschrieben, der nicht in Kunzes Personenliste vorkommt, aber ein Kandidat dafür wäre in seiner orthodoxen Europäerschaft. Man braucht Bilder, sagt Canetti in seinem autobiografischen Bericht Die Fackel im Ohr, um die eigenen Weisen der Weltaneignung zu konzentrieren, es müssen mehrere sein, aber nicht zu viele, und sie liefern der Identifikation buchstäblich das Medium. Michael Kunze stellt solche Bilder bereit. Die Menschen und Konstellationen, die er anbietet, erklären sich über die Tradition, nicht über die Brauchbarkeit, sie leben von der Verweigerung, nicht von der Geeignetheit und sie sind eher Verstimmungsträger, als dass sie Labels, Logos, Images abgäben für ein breites Funktionieren des Prinzips PinUp. Kunzes Malweise tut ihr Übriges, die gläserne, wächserne Altmeisterlichkeit des Inkarnats und die hieratische Gesuchtheit der Posituren. Auf diese Hommage muss man sich einlassen.

Kulturelle Logik
Das Leben der infamen Menschen hat Michel Foucault im Jahr 1977 einen Aufsatz betitelt, in dem er sein bevorzugtes Personal der Delinquenten, die Wahnsinnigen, Zuchthäusler, sexuell Auffälligen einmal mehr Revue passieren ließ. Dass eine solche Vertretung von Andersheit, Differenz und Marginalität, diese Existenz gegen die Fama, mittlerweile längst Berühmtheit erlangt und Mainstream-Charakter angenommen hat, hat sich bis zum Siebzehnjährigen herumgesprochen, der darauf pocht, anders zu sein und dabei auch noch ein Opfer der Gesellschaft und ein Produkt der grundsätzlich bösen Umstände. Die Attraktivität, die sich heute um den Viktimismus rankt wie nicht mehr seit den Märtyrerkulten der Spätantike, spricht Bände für den konformen Narzissmus der allerkleinsten Unterschiede.

       Es gibt in der Tat eine kulturelle Logik des Spätkapitalismus, wie Fredric Jameson 1984 erklärte, und die Logik des Avantgardismus ist ein Teil davon. Gegnerschaft gehört längst zu den Ingredienzien eines hinreichend komplexen Status Quo. Bei Jameson hatte sich, dargeboten im seinerzeit sehr einschlägigen Jargon, bereits lesen lassen, wie »nicht nur lokal begrenzte, alternative Formen gegenkulturellen Widerstands und der Guerilla, sondern auch offene politische Interventionen auf irgendeine Weise heimlich entwaffnet und von einem System absorbiert werden, zu dem sie letztlich auch gerechnet werden müssen, da sie sich eben nicht von ihm distanzieren können.« Heutzutage kennt jeder Handy-Benuzter den Mechanismus: Wer nur das Gerät will, ohne sich dem Betreiber auf Jahre hinaus auszuliefern, muss dafür bezahlen, wer sich einem Netz verpflichtet, bekommt es kostenlos. Wer sich also der Ökonomie versagen will, muss dafür bezahlen und kann nicht umhin, sie gerade darin zu bestätigen.

       Wenn Michael Kunze nun Vertreter einer Alternative zur globalisierten Beglückung aufruft, kann dies nur im Wissen darum geschehen, dass sie längst Bestandteil dieser Beglückung sind. Im unermüdlichen Rotieren der Angebote an Sinn und Sinnlichkeit wird irgendwann aus jeder Hässlichkeit Schönheit und aus jedem Hassen ein Schonen. Außenseitertum sorgt für Aufsehen und gibt damit selbst ein hervorragendes Produkt ab in der weltweiten Ökonomie der Aufmerksamkeit.

Rappel à l’ordre
Die Lingua Franca der Gegenwart ist das schlechte Englisch. Offenbar ist es mit dem Unterricht darin nicht weit her, und so ist der Vorschlag, den Michael Kunze im Interview macht, nämlich die Englisch-Lektionen durch eine Ausbildung in Altgriechisch auszutauschen, eine Umsetzung wert. Eine Umsetzung wenn nicht in Pädagogik, so doch in ein künstlerisches Oeuvre, und eben dem hat sich Kunze verschrieben.

       Kunze übt sich in Hermetik, er setzt auf Bildung und probt im Wissen um das Vergebliche daran die Unverständlichkeit. In einer überkorrigierten Gegenwart sind dies allesamt Schmähworte. Auch die Personalpolitik, die er in Messieurs d’Avignon betreibt, hat sich einen Rest an Aufregendheit bewahrt, indem mit Ezra Pound, Martin Heidegger oder Salvador Dalí Gestalten Revue passieren, bei denen das interkontinentale Viertelwissen aufgeregt die ästhetischen Eigenheiten mit einem Faible für den Faschismus verrechnet.

       Zehn Jahre nach seinen Demoiselles hat Picassos Werk eine Facette offengelegt, die ihm bis heute nicht gerade die offensivste Zuneigung einträgt. Der Meister wurde klassisch, klassizistisch, mediterran und statuarisch, er fing zu zitieren an, wo er bis dato zerpflückt hatte, und bemächtigte sich des Körpers plötzlich per Formation und nicht per Deformation. Mit einer solchen Wendung ins Konventionell-Normative passt Picasso nun doch erstaunlich gut zu Kunzes Absichten. Es hatte ein Innewerden stattgefunden, und als Rappel à l’ordre ist es in die Kulturgeschichte eingegangen. Der Begriff selbst stammt aus dem Jahr 1923 und wurde von Jean Cocteau formuliert, doch schon fünf Jahre früher, mit der Schrift Après le cubisme von Amedée Ozenfant und Le Corbusier, hatte er sich artikuliert. Die Rückkehr zur Ordnung war ein Ruf und keine Wende, der Ruch des Reaktionären indes ist ihm unter der Ägide der Ismen geblieben. Das Lineare, Fortschrittliche, ins Weltweite Gerichtete, der Jahrhundertelan, duldete keine Retardierung.


        Après le cubisme hatte die Forderung erhoben nach einem »neuen Pythagoras«, und womöglich trifft sie sich hier exakt mit Kunzes Konzeption. Neu darf eine solche Philosophengestalt auch in der Fasson sein, die Kunze vorträgt. Wenigstens aber sollte sie Altgriechisch können.


Les Messieurs d’Avignon, Köln 2007, S. 21