Neuer Wille
Das beliebte Streitspiel um die Frage, ob das Wort Blitz bereits durch seine Eigenart als übersetzbares
Wort etwas aussagt, erhitzt die Gemüter in regelmäßigen Abständen. Der Streit dient
u. a. dazu, den Wettbewerb um die jeweils anpassungsfähigste Form der Beschreibung auf Kosten
dessen anzutreiben, was der Blitz über den Augenblick hinaus zu sein verspricht, in dem
es blitzt. Immer dann, wenn die Frage nach dem Lichtschein und seinen Begleitumständen im
Visier des zornigen Beobachters nahezu gegenstandslos wird, sollen zur Rettung vor der himmlischen
Strafe die gefährdeten Ideale einer chronisch an sich zweifelnden Gesellschaft noch
einmal reanimiert werden – jenseits der technologischen Unsterblichkeit, an die wenigstens die
Mathematiker der atmosphärischen Spannungen glauben. Dabei ereignet sich schließlich die
Aushöhlung des Raumes, den soeben noch die Entladung wie nichts durchstieß: Mehr wollte,
könnte und sollte kein Wort jemals gesagt haben! Der jetzt wieder erloschene Blitz ist die vermeintlich
überflüssige, verfemte oder sogar gefürchtete Botschaft eines ebenso für überflüssig
erklärten, im Versteckten auf sich beharrenden, vielleicht größenwahnsinnigen Autors. Die dagegengesetzte
Selbstbezüglichkeit des Fingerzeigs aber lässt die Mitteilung auf dem Schlachtfeld
implodieren, bis ein neuer Wille über dem brachliegenden Gelände erwacht, das endlich
der Gewitterpflug für die Saat vorbereitet.
Das gleichnishafte Bild vom Blitz wird innerhalb der Abzugsgefechte um seine
richtige Beschreibung zum Inbegriff einer anachronistischen, geradezu ketzerisch der Selbstauflösung
widerstrebenden Ausdrucksweise. Ein schönes Ärgernis. Die genannte Entgegenständlichung
des Ereignisses aber gibt unter klarem Himmel dem Bild die Möglichkeit, die
wahnhaften Strukturen eines ent-autorisierten Textes aufzuzeigen – als dem Überbleibsel einer
missverständlichen Geschichte der Freiheit. Wer jetzt etwas zu sagen hat, der muss es gleich
auf dem offenen Feld sagen, d. h. im geschlossenen Raum! Vom Ende einer nicht enden wollenden
Geschichte aus dringt der Blick in eine vergiftete Außenwelt, deren Transparenz den
beliebigen Moment eines schleichenden Todes aus dem physikalischen Zusammenhang löst.
Die Kehrseite des gesprengten White Cube, dessen Ideal die Aufhebung des Wortes Blitz gegen
dessen Realität intendiert, setzt sich immer konfuser von Eselsohr zu Eselsohr fort, bis das
Stimmengewirr bei der Feindberührung die Drachensaat des verleugneten Autors aufgehen
lässt. Dieser scheinbar planlose Entzug der idealistischen Droge wird erst möglich durch die
illusionistischen Effekte eines Gespinstes, das nirgends mehr in Widerspruch zu dem Willen
steht, der es erfindet und zerreißt: verdammte Farbe auf verdammter Leinwand und trotzdem
keine Materie, durch die sich der Zornesausbruch erklären ließe! Und wie steht es mit der
Form, die endlich aus dem Zirkel ihrer psychosomatischen Tollwut befreit sein will? In der
Hitze des Gefechts unter Monologisten ist es von Vorteil, über Anlass und Bedeutung solchen
Treibens kein Wort zu verlieren, denn sofort rückt ein Spinner dem anderen Spinner so nahe,
dass sich beide nur noch unscharf erkennen. Wie verhält sich darauf derjenige, der ohne Sentimentalität
auf seine Unwissenheit stolz ist? Kann er den Instinktverlust wettmachen, der in
der Abreaktion eines Augenblicks zum Problem wird? Die Antwort erfordert eine neuerliche
Drehung: Der Blitz bezeichnet den Moment, in dem ein Gegner unvermutet seine Deckung
aufgibt, während an anderer Stelle der gute Bienenzüchter seinen Honig sammelt.
Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 166