Radikale Revision der Moderne
Vom Eisvogel zu Nietzsche zu Heraklit zu Böcklin zu Pasolini
zu Arno Schmidt zur Fotografie zum Text zur Malerei. Zur
Weltwahrnehmung. Michael Kunzes (*1961) künstlerischer
Kosmos ist rücksichtslos verrätselt. Er fordert mit einem Aufgalopp
an kulturellen, geisteswissenschaftlichen, philosophischen
und literarischen Bezügen und fasziniert mit malerischer
Präzision und verheißungsvoll narrativen Tableaux,
deren mimetisches Repertoire sich der Kulturgeschichte von
mindestens 2000 Jahren bedient. Eine anspruchsvolle Aufgabe
für den Betrachter. Gelingt es ihm, den kryptischen
Aspekt in Kunzes Malerei zu durchdringen, indem er in der
Fülle der Zitate, der surrealistischen und symbolistischen
Verweise die vermeintlichen Leerstellen – nach Kräften und
im Rahmen seiner Möglichkeiten – rekonstruiert, hat er den
Schlüssel gefunden, der ihm obendrein aus der Falle der kollektiven
Mainstream-Irrtümer zur Kunst unserer Tage hilft.
Radikal in seiner Kritik am Kanon der von ihm als „amtlich“
bezeichneten Moderne des 20. Jahrhunderts mit ihren aufeinanderfolgenden
Avantgarden bis zur Postmoderne, interessiert
Kunze vielmehr deren „Schattenlinie“, die er von
Böcklin über de Chirico, die frühen Surrealisten bis heute
etwa mit Balthus, Bacon und Kiefer nachzeichnet. Zu seiner
Revision der Moderne gehört ganz selbstverständlich
der unmittelbare Bezug auf die Antike, eine kritische Fortschreibung
bestimmter philosophischer und existentieller
Fragestellungen, eine zeitgemäß organisierte Darstellung
primärer, also althergebrachter, originärer und sekundärer,
ins Heutige übertragener Wirklichkeit – und das Medium
der Malerei.
Zweifellos entfernt Michael Kunze sich mit dieser Position
vom populären Kunstbegriff der 1980er- und 1990er-Jahre.
Wie wenig der allerdings auf Dauer taugt, zeigt sich nicht zuletzt
am in jüngerer Zeit nachlassenden Interesse an Konzept
und Kontextualisierung, an der derzeitigen Hinwendung zu
sogenannter Outsider-Kunst und an der Revitalisierung der
Malerei. Wobei dieses Genre heute sehr weit gefasst werden
muss. In einem Interview sagte Michael Kunze einmal, Malerei
könne zwar, aber müsse überhaupt nicht „Pinsel auf
Leinwand bedeuten“. Malerei könnte sich als Film äußern,
als Fotografie, als Installation, als Eingriff in Architektur oder
Landschaft und vor allem immer wieder als Text, und fügte
an, dass manche Videoräume von Bill Viola schlüssiger mit
malereispezifischen Kategorien beschreibbar seien und dass
andererseits bei Polke die Malerei das bloße Täuschungsmanöver
eines surrealistischen Trickfilmers sei. Insofern sei es
wichtig, den Begriff eines Mediums von seinem technischen
Ursprung zu trennen, um präziser vergleichen zu können:
Nicht um Peinture solle es gehen, sondern um Bild gewordene
„Texte ohne Verben“.
Nach seinem Studium der Kunstgeschichte und der Musikwissenschaft
wechselte der 1961 in München geborene
Michael Kunze – der Großvater, die Mutter und der Bruder
Archäologen, der Vater Musikwissenschaftler – an die dortige
Akademie der Bildenden Künste. Nach zahlreichen Ausstellungsbeteiligungen
und Einzelausstellungen in Galerien
in München, Düsseldorf, Köln, Berlin, Amsterdam, Reykjavik
und Mumbai hatte er 2013 seine erste umfassende Retrospektive
in der Kunsthalle Düsseldorf – Halkyonische Tage
(Abb. 1), so der Titel. Und hier kommen sowohl der Eisvogel
als auch Friedrich Nietzsche (1844–1900) ins Spiel.
In die halkyonischen Tage fällt die Nist- und Brutzeit des Eisvogels,
nahm man im antiken Griechenland an und berief
sich auf den Mythos von Halkyone, die, als sie untröstlich
um ihren Mann trauerte und unaufhörlich nach ihm suchte,
von den barmherzigen Göttern in eine Eisvogelhenne mit
stahlblau glitzerndem Gefieder verwandelt wurde. Alljährlich
um die Wintersonnenwende, so die Legende, wenn bei
klarem Wetter der Wind über der Ägäis ruht, brütet sie, behaglich
in einem Nest auf dem Meer treibend, ihre Jungen
aus. Ein Idyll von kurzer Dauer.
Im gehobenen und damit nur noch seltenen Sprachgebrauch
steht dieser Begriff für ein Intermezzo der Entspannung
und Gelassenheit in ansonsten anstrengenden Zeiten.
Nietzsche konnte mit diesem Ausdruck noch viel mehr anfangen
und drehte dessen Bedeutung ein Stückchen weiter,
um einen Zustand von Klarheit, vollkommener Stille und
Heiterkeit zu bezeichnen. Im Engadin, in Sils Maria, kam er
diesem Zustand manchmal sehr nah, wenn ihn dort bei entsprechend
halkyonischer Witterung seine notorischen und
wohl fürchterlichen Kopfschmerzen für kurze Zeit verließen.
Ein nahezu idealer, freilich interimistischer Zustand sind
diese halkyonischen Tage also, bevor das Unheil, die Trauer,
die Qual sich wieder zuverlässig melden.
Moment vor dem Ausbruch
Michael Kunze spannt mit dem Ausstellungstitel einen geografischen,
kulturgeschichtlichen und zeitlichen Bogen, der
die Aussagekraft und Wirkmacht einer Metapher ebenso
belegt wie ihre transmediale Deutungshoheit. Er formuliert
damit aber auch die Klage über eine nur im Übergang und
kurzfristig zu erreichende Erfüllung einer ansonsten kaum
zu zügelnden Sehnsucht. Behagliche Stille ist allerdings in
keinem seiner Werke zu erspüren, vielmehr ein Stillstand,
der gleichsam den Moment vor dem Ausbruch der nächsten
Katastrophe einfriert. Nicht selten in angedeutet formaler
Annäherung an die atmosphärische Bildsprache mancher
Fantasy-Computerspiele.
Mit seinen in Düsseldorf gezeigten Werken aus den Jahren
2007 bis 2012 versammelt Michael Kunze mehrere recht
unterschiedliche Werkblöcke oder seriell konzipierte Arbeiten.
Im monumentalen Format wendet er sich beispielsweise
Friedrich Nietzsche zu, den Orten, an denen der Rastlose
mehr Zuflucht als Erbauung gesucht hat: Turin, Genua
und andere. Dabei bleibt Kunze geografisch im Ungefähren,
zeigt vielmehr Seelenlandschaften. Es sind von verwilderten
Sträuchern überwachsene, düstere Ruinenschluchten,
Stadtmauern, gewundene Straßen am Meer, der Himmel
wolkenverhangen. Die in altmeisterlicher Manier aufwendig
lasierten Leinwände sind geprägt von einem romantischen
Symbolismus, der an die Grenzen des Machbaren
geht. Sie sind klassisch, perspektivisch einwandfrei gebaut,
durchdrungen von einer post-apokalyptischen Atmosphäre
– schwer, bedrohlich, riesig, ultraaltmodisch, übermodern.
Doch bevor man unter ihrer Last ächzt, entdeckt man bei
einem der Gemälde diesen seltsam comichaften Apparat
auf dem dreibeinigen Stativ am unteren Bildrand: eine Kamera,
das Geometer eines Kartographen, ein Hilfsmittel, das
den Philosophen bei der Vermessung der Welt unterstützt,
– damit er die Entfernungen, die zeitlichen und die metaphorischen,
auslotet? Hinter den Mauern lugen Schiffsmasten
und geblähte Segel hervor, – doch Turin liegt nicht am
Meer! Und dann die Titel: Tag der geschlossenen Tür ...!
Kunze ist waghalsig, schichtet und schildert präzise und
geht bei aller Eindringlichkeit auf Distanz. Schulhof Sils-
Pforta heißt eines der Nietzsche-Bilder, auf dem sich eine
Art doppelstöckiges Viadukt, flankiert von Trümmern, über
schwarzes Wasser spannt. Darüber schwebt Turngerät an
spinnwebgleichen Netzen. Im Hintergrund scheint die
Engadiner Bergsilhouette auf. Pforta liegt bei Naumburg.
Nietzsche war Stipendiat an der dortigen Schule, diskutierte
in aufgeschlossenem Klima über Literatur, Philosophie und
Musik. In Sils-Maria verbrachte er nach seiner frühzeitigen
Pensionierung schreibend und denkend die Sommermonate
bis 1888. Da zeichnete sich bereits sein Zusammenbruch
ab. Der Bildtitel verbindet Anfang und Ende, die Darstellung
veranschaulicht, ohne zu illustrieren.
In Michael Kunzes Gemälden verschmelzen, wie in einem
kakophonen Echo, die Epochen, die Jahrtausende. Simultan
verknüpft er gemäß der von Marcel Duchamp geforderten
Multiplikation visuell Architekturen, Personen, Überlieferungen,
die wiederum häufig nur durch ein Objekt, ein Zeichen,
ein Zitat als Pars pro Toto vertreten sind. Es entsteht,
bei aller Exaktheit und formal strengen Wiedergabe, ein
traumverwandtes Kaleidoskop, das, scheinbar in fast vergessenen
Bildungswelten sich verlierend, nur mit fundiertem
literarischen, philosophischen, historischen, vielleicht sogar
musikalischen und mathematischen Wissen einigermaßen
zu entschlüsseln ist. Zwischen den Reminiszenzen und Fragmenten
einer ursprünglichen Geschichte wendet sich eine
transzendente Schicht der Erkenntnis gegen logische Strukturen,
die an ungewohnter Stelle an die Oberfläche drängen.
Manches festgeschriebene Dogma der Moderne zeigt
hier seine problematische Seite.
Illusionslosigkeit als Prinzip
Von Romantik spricht er weniger, dabei ist all seinen Werken
Unvollendbares als Metapher eingeschrieben. Einmal vertreten
durch die allgegenwärtigen ruinösen Architekturen, die
in der Romantik als Mahnmal der Vergänglichkeit die Rolle
des von Anbeginn und für alle Zeit Unfertigen übernahmen,
zum anderen durch die Leerstellen, die durch den parallelen
Auftritt von zeitlich und metaphorisch auseinanderklaffenden
Szenarien entstehen. Die Ruinen können freilich
auch als beschädigte, bruchstückhafte Zeugen, als Torsi der
Vergangenheit mit Option auf Fortbestand in alle Ewigkeit stehen.
Das wäre eine zeitgenössische Deutung, die freilich
nicht weniger romantisch wäre und melancholisch allemal.
In seiner ersten institutionellen Ausstellung 1990 im Kunstverein
München hat Michael Kunze zwei Räume über und
über in tiefstes Blau getaucht, durchzogen von dynamisch
angeordneten gelben Linien. Eine Welt (Abb. 2, 3) sah irgendwie
kosmisch aus. Viel näher lag noch ein Zusammenhang
mit der Blauen Blume,
dem Ideal der Romantik, das sich in
seiner Vielschichtigkeit, seiner Uneindeutigkeit nicht erkennen
und somit nicht beherrschen lässt. Exakt angeordnete
leuchtende Strahlen, Linien und Punkte imaginierten ein
Ordnungsprinzip, verführten jedoch nur zu scheinbar logischen,
welthaltigen Schlussfolgerungen, die nichts weiter
als eine Illusion sein können. Kunze arbeitet im romantischen
Duktus mit der Illusionslosigkeit als Prinzip einer unangepassten
Moderne.
In seinem Tsalal-Zyklus instrumentiert er Edgar Allan Poes
Roman The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket.
Die entsprechenden Erklärungen zu seinem Ansatz sind für
das allgemeine Verständnis seiner sperrigen Arbeiten aufschlussreich
und lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Die Insel Tsalal, ein fiktiver Ort im Südpolarmeer an
der Grenze der bekannten Welt, ist die letzte Station einer
von Katastrophen geprägten Seereise und wird zum Schauplatz
einer blutigen Begegnung der Kulturen. Pym und sein
Freund überleben die Orgie der gegenseitigen Auslöschung
und planlosen Zerstörung, können mit einem Kanu fliehen
und geraten, je weiter sie sich der Antarktis nähern, in eine
Sphäre der paradoxen und mysteriösen Erscheinungen. Das
Meer wird zunehmend wärmer, unerklärliche Farb- und
Lichtspiele irritieren, bis am Horizont ein riesiger Katarakt
erscheint, der aus einer diffusen Helligkeit vom Himmel
herabstürzt. Große weiße Vögel gleiten über den warm
strömenden Ozean hinweg, schließlich erscheinen in einer
Öffnung des Katarakts die vagen Umrisse einer gewaltigen
schneeweißen Figur. Hier bricht der Bericht des Gordon Pym
unvermittelt ab, der Text endet in einem Verwirrspiel um
dessen wahre Autorschaft: Pym oder Poe. Der Schriftsteller
Arno Schmidt (1914–1979) führt, bezogen auf die verheerenden
Ereignisse auf Tsalal, in seinem Hauptwerk Zettels
Traum den Untergang der antiken Kultur auf drei Kräfte
zurück, auf „das Schlägertum der germanischen Partisanenvölker“,
auf „das Gegammel des späten Rom“ und auf
„die Geistesabwürgung durch das Xentum (Christentum)“
– und steht damit in der Tradition einer aus idealistischen
Denkströmungen stammenden Kulturkritik, die das an der
Schwelle zur Moderne aufkommende Massenzeitalter für einen
Niedergang verantwortlich macht, in dem die Differenzen
eingeebnet werden, die für kulturelle und künstlerische
Hervorbringungen notwendig sind.
Schmidt poche unzeitgemäß auf den E-Status von Kunst,
so Kunze, das heißt auf einen definierten Abstand zum Rezipienten,
und pflege damit eine scheinbar antimoderne
Moderne, die verruchterweise und nicht proletarisch korrekt
auf Pop-Kompatibilität verzichtet. In den Tsalal-Bildern
beschreibt Kunze in erotisch aufgeladenen Interieurs und
figurenreichen Versammlungen auf dem Dach der Villa
Malaparte auf Capri den Zustand „nach Tsalal“, gespickt mit
historischen Anspielungen – es handelt sich hier um die
Schlussszene von Jean-Luc Godards Film Die Verachtung –
zwischen den bedrohlich munteren Gespenstern der Erinnerung
und den todesbereiten Kriegern der Kulturen. Gewohnt
sperrig und schwer lesbar, doch die Nähe zu Arnold Böcklins
(1827-1901) Toteninsel ist evident.
Entsprechend Böcklins nie von ihm ausformulierter, aber
seitdem stets nach- und neuinterpretierter Metapher wird
zum Ende des 19. Jahrhunderts die europäische, auf den
Werten der Antike beruhende Kultur zu Grabe getragen. Er
hat dafür das symbolistisch aufgeladene Bild einer zypressenbestandenen
Felseninsel mit ruinösem Mauerwerk und
Grabkammern gewählt, auf die sich ein Nachen, beladen
mit einem von einer hohen weißen Gestalt begleiteten Sarg,
zubewegt. Arnold Böcklins Leitmotive Tod, Bedrohung und
Einsamkeit, sein Kulturpessimismus und seine mystischen
Traumwelten befeuern, unschwer zu erkennen, Michael
Kunzes Bildfindungen.
Symbolische Verknüpfungen
Besonders eindrucksvoll fügen sie sich in den vielteiligen Variationen
zu Arno Schmidts IRAS (International Republic of
Artists and Scientists) zusammen, einer Gelehrtenrepublik,
die freilich bitter scheitert – scheitern muss. Kunze choreografiert
die IRAS-Gemälde 2009 zum forciert hermetischen
Reigen, in dem entlegene mythologische Bezüge und surreal
bebilderte kosmologische und politische Theorien mit
historischen Konstellationen verknüpft werden. Doch da
gibt es noch die mächtige Pittura metafisica von Giorgio de
Chirico (1888–1978), die ebenfalls ein Fixpunkt auf Kunzes
„Schattenlinie“ der Moderne ist, mit ihrer antikisch geprägten,
architektonischen Kulissenwelt, dem Spiel mit den Perspektiven,
den wohlüberlegt platzierten Einsprengseln realer
und surrealer Elemente. Die Pariser Surrealisten, allen voran
Salvador Dalí und Max Ernst, haben de Chirico verehrt, genauso
wie den Symbolisten Arnold Böcklin. Beide gelten als
unmittelbare Vorläufer und Ideengeber. Und auch Michael
Kunzes Bildstrategien, seine kompositorischen Strukturen,
die klassischen, auch klassizistischen Architekturen, oft mit
Anklängen an totalitäre Regimearchitektur des 20. Jahrhunderts,
vereint zu bedrohlich anmutenden, abweisend erstarrten,
häufig verlassenen, offensichtlich vom Menschen
aufgegebenen Gebäuden und Plätzen, verweisen auf den
zumindest in der Hochphase seines Schaffens glänzenden
Metaphysiker Arno Schmidt.
Und das führt weiter. Zu Martin Heidegger (1889–1976),
mit dem Michael Kunze sich im Zusammenhang mit dessen
Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? mal
offensiv mit scheinbar narrativen, doch umso rätselhafteren
szenischen Details auseinandersetzt, mal mit unauflösbaren
Denkfiguren, zart verwoben, auch an mikrobiologische
Strukturen erinnernd, im Zentrum riesiger graugrundiger
Leinwände verankert. Zu diesem Themenkomplex gehört
auch die fünfteilige Bildgruppe (Abb. 4, 5) des legendären
Spiegel-Interviews 1966 auf Basis der offiziellen Pressefotografien.
Rudolf Augstein hatte zusammen mit Ressortleiter
Georg Wolff, einem ehemaligen SS-Hauptsturmführer, den
zweifelsfrei international bedeutenden Existentialisten aufgesucht,
um mit ihm über seine umstrittene Haltung im
Dritten Reich zu sprechen. Das Gespräch verlief jedoch nicht
zuletzt wegen der Vorgaben Heideggers und der unerklärlichen
Ehrfurcht Augsteins und seines Begleiters im Ergebnis
unbefriedigend.
In einem Interview gefragt, welche Rolle das Denken
Heideggers für seine Arbeit und seine Weltsicht spiele,
antwortet
Michael Kunze (hier verkürzt zitiert): „Die Art und
Weise wie sich bei Heidegger Kulturkritik mit Metaphysik,
aber auch Postmetaphysik mit existenziellem Lebensanspruch
verbindet, ist für seine Zeit und für kommende Zeiten
die Antriebswelle eines fortdauernden hermeneutischen
Salto Mortales, ganz in dem doppelbödigen Sinn, der gerade
dem abseitigen oder abgründigen Weg seine belebende
Kraft verleiht.“ Die Bibliotheksszene lässt auf zwielichtige
Weise diesen mäandernden Ideenzusammenhang sichtbar
und spürbar werden, ohne dass gewünschte Worte fallen.
Das aneinander Vorbeigehen zweier Generationen macht
das Interview zur Gespensterrunde und bestimmt hiermit
exakt den Brennpunkt und „Rauchfang“, wie der Künstler
das nennt, eines von ideologischen Verwerfungen gezeichneten
Jahrhunderts der existentiellen Revolte.
Doppelbödigkeit, mäandernde Ideenzusammenhänge haben
Kunze auch bei der Auswahl der Denker und Dichter,
der bildenden Künstler und Filmemacher, mit denen er
unter dem Titel Les Messieurs d‘Avignon (Abb. 16,17) einen
Bildersaal der anderen, jenseits von vormarkierten Richtungen
und schlampig adaptierter Fortschrittsgläubigkeit
angesiedelten Moderne zusammenstellt. Es sind Einzelgänger
wie Balthus und Louis-Ferdinand Céline, Albert
Camus und Houellebecq, natürlich Heidegger, Nietzsche,
Fernando Pessoa und die wichtigsten Protagonisten des
europäischen Films der Nachkriegszeit, Pier Paolo Pasolini,
Luis Bunuel, Ingmar Bergman, Andrej Tarkowski.
Eine erstmals 2007 im ZKM / Museum für Neue Kunst
Karlsruhe gezeigte, ebenso illustre wie diskutable Riege,
mit der sich ein eher düsterer, labyrinthischer, geschichtsverwobener
und speziell eurokontinental geprägter Bildund
Textzusammenhang verfolgen lässt, der keine naive
Fortschrittsgläubigkeit, keine schlüssigen Lösungen, keine
politische Korrektheit und keinen populären Pragmatismus
kennt.
Widerspenstige Störenfriede
Stattdessen, lässt sich hinzufügen, vertreten die 60 in dieser
Genealogie der Moderne Versammelten eine unbedingte
Autonomie des Denkens, die sich vor Irrtümern und
Fehltritten nicht fürchtet. Es sind allesamt böse Buben,
widerspenstige Störenfriede, die sich dem Mainstream
entziehen. Der Gedanke, dass so mancher unter ihnen irgendwann
zumindest kurzfristig oder im verbitterten Altersstarrsinn
dem Faschismus einiges abgewinnen konnte,
macht wund, verschärft aber auch Kunzes Polemik der
„Schattenlinie“. Und regt auf. Wie soll man sich nun als Betrachter
positionieren? Gar nicht. Bestürzend ist, sich die
offenbar unbezwingbare Bereitschaft einzugestehen, geistige
Brillanz, äußere und innere Schönheit eines Kunstwerks,
seine Vollkommenheit nur allzu gern automatisch
auf eine Vollkommenheit seines Schöpfers zu übertragen.
Caravaggio war ein Mörder.
Kunzes provokant und malerisch tadellos vorgetragener
Ausschnitt der Wirklichkeit verstört vielleicht, zwingt auf
jeden Fall zur möglicherweise allumfassenden Recherche,
zur Reflexion. Seine Polemik beginnt schon damit, dass
er diesen Männer-Zyklus nach Pablo Picassos Demoiselles
d‘Avignon, der kunsthistorisch festgeschriebenen Inkunabel
der Moderne aus dem Jahr 1907, benennt und diese
vielleicht doch reichlich überständige Beurteilung damit
lakonisch hinterfragt, gleichzeitig aber auch die Qualität
eines unter obstinaten, allerdings zeitlos wirkmächtigen
Männern ausgetragenen Rankings zur Disposition stellt.
Ein wesentlicher Aspekt in Michael Kunzes Schaffen ist
das Schreiben. Zu seiner Ausstellung Halkyonische Tage
erschien ein Künstlerbuch, in dem sich seine Texte ganz
selbstverständlich einfügen, wobei sie sich parallel zur
bildnerischen Arbeit entfalten. Eine diskursive Ebene, auf
der ein Bild eine Erklärung erhielte, wird vermieden: „Der
Text macht da weiter, wo Sichtbares nicht mehr entzifferbar
ist, und Oberflächen hermetisch erscheinen. Ich versuche,
diese Momente mit idealistischen Fragestellungen in
Verbindung zu bringen, die mich entgegen allen antimetaphysischen
Einstellungen der Spätmoderne auf ein metaphysisches
Feld führen, das hinter jeder nicht-informativen
Lücke einer alltäglichen, aber auch wissenschaftlichen
Übereinkunft lauert.“
Allerdings geben auch sie Rätsel auf, verlangen viel, verlassen
allzu vertraute Pfade und sind frappierend unmodern,
schmeißen den Leser unvermittelt aus wohligen Geschichten
und Legenden in ein assoziatives Gedankengestrüpp und
schwelgen in immer neuen Bildern und Konstellationen.
Dazwischen die Fotografien von griechischen Landschaften,
mit denen Michael Kunze seit vielen Jahren versucht, den
Status quo einer Öffentlichkeit zu dokumentieren, die in der
vergessenen Ursprungszone einer bis heute entscheidend
und dominant nachwirkenden Leitkultur immer noch Spuren
eines Geistes spürbar sein lässt, über dessen historisch
einschneidende und schicksalsstiftende Macht sich bis heute
streiten lässt. Erinnerung und surreale Gegenwart durchkreuzen
sich im scharfen Licht des Nordwinds an ägäischen
Küsten. Es sind Momentaufnahmen, elegische Zustandsbeschreibungen,
denen die Chiffren der Zerstörung und des
Verlusts eingeschrieben sind: menschenleere, verstörende
Close ups von lange schon eingefallenen Mauern, nie mehr
begangenen Wegen im Geröll, verrottendem Zivilisationsgerümpel
vor arkadischem Meerblick. Hier verharrt, dem Medium
der Fotografie entsprechend, nichts im Kryptischen,
hier wird das Motiv, der gewählte Ausschnitt zur unmittelbaren
Wahrheit, ist alles gesagt, schwarz-weiß, selten in
Farbe. Die Liebe zu einer Landschaft, aus welchen Quellen
auch immer sie sich speist, schlichte Trauer und Melancholie
siegen über die intellektuelle Schärfe einer ansonsten so
präsenten und eloquent vorgetragenen Kulturkritik. Wenn
nicht alles trügt, geht es hier um nichts mehr, nicht ums anspruchsvolle
Buchstabieren hochmögender Theorien, nicht
um die Chronik eines unaufhaltsamen Niedergangs. Es geht
um nicht mehr und nicht weniger als um Leben und Tod –
und die Schärfung der Wahrnehmungskraft.
Fotografische Chiffren
Freilich lässt sich das schon auch relativieren. Erkennbar bei
genauerem Hinsehen und Vergleichen, haben etliche der
fotografischen Motive als Chiffren, kompositorische Versatzstücke
und metaphorisch verwendbare Gesten oder Zeichen
Eingang in die monumentalen Gemälde gefunden, die
seltsamen Gebäude, die überwucherten Mauerreste, Zäune,
Bunker, Boote, die auf der Leine flatternden Stoffe, die fragwürdigen
Überreste unidentifizierbaren technischen Geräts,
der weite Horizont, das Licht, der hässliche Plastikstuhl –
und die Idealisierung. Das entweiht die Klage jedoch nicht.
Ganz im Gegenteil.
Die komplexe Systematik, das Unterlaufen gängiger Schemata,
ist in all den künstlerischen Äußerungen Michael Kunzes
Programm und macht sie trotz schwelgerischem Vortrag
enorm spröde. Er polarisiert. Seine Sammler – dazu gehören
Ingvild Goetz, die Sammlung Schürmann und die Sammlung
Rheingold sowie einige Museen – beweisen Eigenständigkeit
in Urteil und Nervenstärke. Die kollektive Übereinkunft
des Kunstbetriebs kann sich auf Positionen, wie Kunze sie zu
bewältigen sucht, nicht so ohne weiteres einigen. Leute, die
ausscheren, sind immer auch suspekt.
Monumentale Leinwände, gefüllt mit monströsen, schier
unauflösbaren, nur schwer zu verfolgenden Erzählsträngen
und merkwürdigen Assoziationsketten, geben buchstäblich
zu denken, doch muss man bereit sein, die dekonstruktivistischen
Denkgebäude zu ertragen, die sich obendrein noch
hinter oder in hochaufgetürmten, equilibristisch am Rande
der Möglichkeit balancierenden Architekturen verbergen.
Dann wird es vielleicht ganz plötzlich einfach und es geht
einem so wie dem Stewardessen-Analytiker aus einem von
Michael Kunzes Texten. Der sitzt, aus Gründen, die darzulegen
an dieser Stelle zu weit führen würde, angekettet mit
Handschellen unter einem Sonnenschirm und lässt sich
von seiner Frau befragen. Sie ist misstrauisch, weil ihrem
Mann die Arbeit sehr viel Spaß macht. Er betont deshalb
ausschließlich die Mühen und Schwierigkeiten seines Berufs.
„Zum Schluss und zur Entspannung der Unterredung
kommt eine Postkarte aus den Florentiner Boboli-Gärten auf
den Tisch. Man sieht auf ihr einen ägyptischen Obelisken,
der von vier bronzenen Schildkröten getragen wird. Würden
sich die Schildkröten plötzlich in Bewegung setzen, so könnte
man sich vorstellen, wie der Obelisk langsam durch den
Garten wandert.“
Abb. 1:
Kunsthalle Düsseldorf, Halkyonische Tage , Foto: Achim Kukulies
Abb. 2, 3:
Installation Kunstverein München, 1990, Foto: Marc Berger