Schere Licht

I

Nimmt man einen Wurfstein aus prähistorischer Zeit zur Hand, so bemerkt man, dass er sich immer noch gut greifen und werfen lässt. Trotzdem kann er auch als Zeugnis dafür dienen, dass der technische Fortschritt im Lauf der Geschichte für ähnlich bleibende Zwecke immer effizientere Mittel schuf. Auf einer gerade fortlaufenden Bahn lässt sich die Verfeinerung der Werkzeuge verfolgen, die vom behauenen Stein zum geschmiedeten Metall, zum Schießpulver, zur Dampfmaschine bis zur Lasertechnik führt. Nachdem der erste Schritt getan ist, scheint die Kette der Innovationen vorgezeichnet.
     Wer sich dagegen ein prähistorisches Bilderzeugnis ansieht, der fragt sich sofort, ob auch von hier aus ein so eindeutig gerichteter Fortschritt zu verfolgen ist: Vielleicht nämlich zeigt schon die erste Höhlenzeichnung die letzte Möglichkeit des Paradiesflüchtlings an, ein agonales Verhältnis zu einer Realität zu formulieren, über die noch sein spätester Enkel vergeblich versucht hinauszukommen. Alle weiteren Bildfindungen seien schon in diesem ersten Entwurf enthalten! Weder das illusionistische Tafelbild noch die Fotografie, noch die Computeranimation wären hierzu als Fortschritt anzusehen, sondern lediglich als hinzukommende Differenzierungen eines ursprünglich gleichbleibenden Verhältnisses. Die Bewegung, die hier die verschiedenen Stadien verbindet, verläuft nicht linear – wie vom Faustkeil zum Laserstrahl –, sondern kreisförmig. An jedem beliebigen Punkt dieses Kreises kann der Geschichtenschwindler mit gutem Grund der Meinung sein, gerade am Anfang oder auch am Ende der Entwicklung zu stehen. Und immer ist die Täuschung hierüber eine notwendige Täuschung.
      Zwei gegensätzliche Entwicklungsmodelle stehen sich folglich gegenüber: Während am linear verlaufenden Modell das fortgeschrittenere Stadium vom weniger fortgeschrittenen Stadium klar unterscheidbar ist, kann am kreisförmigen Modell diese Unterscheidung nur oberflächlich oder gar nicht gelingen. Während in Naturwissenschaft und Technik täglich für Neuerungen gesorgt wird, scheint man bei einer kulturellen Äußerung immer auf der Stelle zu treten. Und doch lässt sich von dieser gleichbleibenden Stelle aus über den sich entfernenden technischen Pfeil etwas sagen, das über sein blendendes Ziel hinausgeht. Die Unterscheidung der beiden Entwicklungsweisen hat zwar dazu geführt, dass auf Schere Licht sich Kinder nicht reimen lässt, doch das übersehene Feld jenseits des Überlebensraumes der Gattung wächst mit der Funktionalisierung ihrer blindesten Triebe: Auch für denjenigen, der an die Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit glaubt, gilt der Kreis als Ultima Ratio zeitlicher Bewegung. Der selbst ernannte Weltenerschaffer kann den Ausgangspunkt seiner Reise, die er einmal zu Fuß begonnen hat, im Raumschiff oder zuletzt per Datenstrom erreichen. Er kann den Ausgangspunkt aber auch durch eine gezielte Verirrung seiner Schritte erreichen, durch ein gleichsam unvermeidliches Versehen. Der Plan verändert sich mit jedem Augenblick, der zu seiner Realisierung nötig ist, bis schließlich an einer fernen und doch bekannt scheinenden Stelle die Frage auftaucht, was denn bisher überhaupt geschehen ist. Zwischen dem ersten Wegstück, an das man sich erinnern kann, und dem letzten Wegstück, das gerade zur Diskussion steht, scheint eine Wand zu liegen, die der anonyme Wächter zu durchschreiten hat, ohne dass er damit einen Willen äußert oder einen Widerstand wahrnimmt.


II

Was besagt der Kinderreim? Für den Augenblick eines Augenblicks verschränken sich Kreis und Pfeil: Es ergibt sich ein Ausblick auf eine andere Zeit – doch nicht ohne einen kurzen Exdiskurs: Will man die Möglichkeit einer illusionistischen Verdopplung des Realen bis hin zur Ununterscheidbarkeit von Original und Kopie weiterdenken, so lässt sich der wunde Punkt am Beispiel eines anachronistischen, bis in seine Mikrostruktur analogen Mediums deutlich machen. Nicht trotz, sondern aufgrund des implizierten historischen Labyrinths. Die Not wird vor dem Warnhinweis zur Tugend. Gerade hier, auf dem definierten Abstellgleis, lassen sich die Motive und Grenzen einer perfekt nachahmbaren Welt über ihre technische Beschaffenheit hinaus thematisieren. Dabei geht es jetzt auch um die Unterscheidung einer Kinderwelt von einer Erwachsenenwelt: In der Ersteren gilt Mimesis als das Lebensprinzip einer pantheistisch durchdrungenen Wirklichkeit, in der Letzteren ist Mimesis die Bedrohung und Verunklärung einer Realität, die endlich als der Ernst des Lebens erkannt sei. Wo dieser Unterscheidung die Faulheit genommen wird, tauchen aus der historischen Verflechtung abstruse Strategien auf, die wie aus einem Füllhorn Erzählbares konstruieren: Alles kann getan werden, damit an der Scheidelinie zwischen Spiel und Ernst, Ewigkeit und Vergehen die Frage nach der tatsächlichen Qualität einer simulierbaren Welt Reibung erzeugt. Malerei erscheint z. B. als Grundlagenforschung über einen illusionistischen Umgang mit dem Phänomen Wirklichkeit, der den Zugang zu dem bestimmt, was von Lascaux bis MoMA ein Bild sei: ein aus Ziffern bestehender Spiegel, der tragende Wände ersetzt.


III

Entweder ist die Realität bedrohlich, oder sie lässt sich durch Simulation entschärfen, federn, manipulieren, streichen: Entweder die Kinder wissen um die Gefahren von spitzen und brennenden Dingen, oder ihr Spiel kennt schon die Raffinessen eines durchgängigen So-tun-als-ob. Auf dem Weg zu einem Wissen, das zuletzt auf sokratische – d. h. selbstbezügliche – Weise bezweifelbar sein muss, sind die absurden Stellen ausfindig zu machen, an denen eine gegebene Erzählung trotz der schlüssigen Verkoppelung von erkennbaren Elementen nicht vorwärtszukommen scheint. Diese Stellen des Innehaltens ermöglichen den notwendigen Kontextverlust, durch den der illusionistische Prozess ohne Infragestellung des illusionistischen Prinzips die Lücken schließt, die das Erzählbare selbst, nicht aber die Art und Weise, wie es erzählt werden kann, auffällig macht. Die Lücke soll einerseits der einschränkende Faktor sein, der die Konstruktion als unumgänglich erweist, um nochmals die Illusion eines funktionierenden Erzählablaufs zu erzeugen – andererseits stellt die Lücke schon den Freiraum dar, durch den die vorgetäuschte Erzählung in jede nur denkbare Richtung fortgesetzt werden kann. Ab wann also sind die Werkzeuge der Erwachsenen gefährlich für die spielenden Kinder? Sobald sich ein Spalt im Gefüge der Reime schließt! Sobald wir alle Kreter sind! Übrig bleibt ein Bild, dessen Aussage lautet: wenn nicht jetzt, dann jetzt! Keine Bewegung ist möglich! Glückliche oder arme Schildkröte? Welche Grenze will der gleichsam göttliche Betrachter noch überschreiten, wenn er den gleichsam göttlichen Schöpfer schon ersetzt hat? Oder ist die panische Flucht aus Platons Höhle doch nur eine Flucht ins Unbestimmte, also schlechthin unmöglich?
      Ab wann die Simulation den Umkehreffekt ausschließt, der die Realität im Nachhinein in einen guten oder schlechten Traum verwandelt, hängt davon ab, wie, wann und ob überhaupt das Kind zum Erwachsenen wird. Spätestens mit der Untrüglichkeit einer Verletzung vollzieht sich der Wechsel. Die beiden getrennten Wege – Kreis oder Pfeil, ästhetische Vollendung oder technischer Fortschritt – kreuzen sich in diesem Moment der Entscheidung noch ein entscheidendes Mal: Der Künstler glaubt, aufseiten der Wissenschaft zu stehen und politisch wirksam zu sein. Fürs Ganze! Nur einen Augenblick lang! Aus der technisch überholten Grundlagenforschung am wunden Punkt eines Entwicklungsprinzips, das Erkenntnis durch Nachahmung verspricht, hat sich eine Paralyse der Oppositionen ergeben – als das Ziel jeglichen wissenschaftlichen Bemühens nach allen Regeln der Kunst: Auch der Gordische Knoten ist ein Resultat von Schleifen! Nach der kurzen Berührung der Sphären trennen sie sich wieder, doch die Berührung hinterlässt jetzt ein Nachbild von der Höhlenbeleuchtung zwischen Schere und Docht, das die Illusion des perfekten Universums nicht als das Ende, sondern als den Anfang der Bemühungen zeigt, dessen Ausgang zu finden. Technisch sieht zwar alles immer besser aus, doch schon die Möglichkeit einer natürlichen Grenze des Besserungsprozesses lässt an der Wirklichkeit zweifeln, in welcher der kalkulierbare Zugang alles ist. Nach dem kurzen Leonardo-Traum geht jetzt jeder wieder seiner eigenen Wege. Nur die Kinder müssen wie eh und je lernen, bei manchem Reiz auch die Gefahr zu erkennen – bis sich an der gereimten Weisheit und heiklen Verbindung noch das letzte Opfer der Selbstbespiegelung schadlos halten kann.


Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 377