Sechster Mittag

Sobald niemand mehr weiß, wer bei dem kleinen Ritual einer Zusammenkunft mit Hindernissen Geburtstag hat, müssen Indizien für rituelle Handlungen sprechen: Die Auskugelung grammatischer Funktionen erlaubt innerhalb solcher Handlungen mehr Freiheiten als ihr ursprünglicher Anlass herzugeben scheint: Um ein Zeichen gegen seine feierlichen Verpflichtungen zu setzen, versucht der Ausbrecher, seine Krawatte zu verschlucken, die aufgrund ihres zweckmäßigen Musters ein Fotograf zur Fixierung der Geburtstagsrunde als Farbkarte benötigt: Doch der Schluckversuch scheitert zum Glück oder Unglück aller Beteiligten an einem Knoten um den Kragen des Protagonisten: Weil sich die Krawatte nicht verschlucken, sondern nur abbeißen lässt, zerteilt der imaginäre Chronist, Gratulant und Farbkartenbenutzer die Szene in ein Labyrinth von Davor und Danach ohne Plan A: Er erkennt das abgebissene Stück der Krawatte im Vordergrund desselben Raumes, in dessen Hintergrund der Schluck- oder Beißversuch stattfindet: Zeit genug, um zwischen Davor und Danach, bzw. Vorder- und Hintergrund Tee zu servieren: Die Kanne mit der XXL-Mündung zur Kühlung des Tees beim Ausgießen wird durch die Schussbahn eines Messerwerfers getragen, der mit verbundenen Augen auf den Billardtisch zielt, der über der elektrifizierten Traumwandlerin an der Decke hängt: Jeder Treffer holt einen Billardtisch aus den Seilen, könnte man meinen, – doch es könnte auch alles so bleiben wie es ist: Solange das Dynamit zwischen den Maiskolben auf dem Grill nicht in die Luft geht, und solange die Zielscheibenrolle am Briefkasten des Betonmischers nicht verbraucht ist, spricht kein Indiz für eine wirkliche, d.h. gewaltsame Unterbrechung einer idealisierten Mittagspause: Geschenke bleiben verpackt, Gitarren bleiben unbespielt, Absperrungen bleiben überflüssig, Brautkleider bleiben in der Vitrine, und Umkleidekabinen werden zu Begegnungsstätten ungeduldiger Gäste in einer fernen, unaufhaltsam sich nähernden Zukunft:


MK, März 2015