Was ist Metaphysik?1

meta

Auf dem Weg, der A mit B verbindet, findet der Wanderer ein Schild, auf dem geschrieben steht: »Wetter schwingt um. Einatmen!« Beim Versuch, die Worte ohne Bedeutungsverlust aus ihrem Zusammenhang zu lösen, reißen die Gurte des Rucksacks vom Gewicht des Goldes, das der Wanderer bei sich trägt. Der Rucksack landet auf dem Punkt C. Der erschöpfte Visionär, der sich bei fragwürdigen Wetterprognosen einen Reim auf die Erleichterung seiner Schultern im vielleicht passenden Moment einer Textverschränkung macht, ist das Traumkind einer rauschfreien Welt. Um zwischen drei Punkten einen durchdachten Weg einzuhalten, erfindet er eine Ewigkeit. Damit befindet er sich auf der Flucht vor den gestrandeten Wächtern einer Währung gegen das Verlustprinzip von Mann und Maus: Mit anderen Worten als anderen Worten als anderen Worten usw. gilt ab jetzt ein möglicher Wetterumschwung als reale Luftbuchung, während das Gesetz der Selbsterhaltung ohne Energieabfall den kleinsten gemeinsamen Nenner garantiert, der ein gleichsam unzugängliches Feld der Felder markiert. Eher an einem Abhang als schon auf dem Plateau! Kein Gewinn oder Verlust ist noch real erwirtschaftet – stattdessen herrschen die Freuden und Leiden der Vergesslichkeit.
      Statt der vielen anderen Worte entstehen somit aus dem Nichts die freien Worte einer Ökonomie der Unwägbarkeiten, durch die mit einem Salto mortale aus dem Stand eine Rechnung eröffnet wird, die der Wanderer ohne Datum und Unterschrift begleicht. Wie anders könnte es sein, dass alles Gold ist, was glänzt! Es fragt sich lediglich, ob dieser Glanz vielleicht nur für den engen Gesichtspunkt einen falschen Wert darstellt. Das Übermaß des Lichtes, das von jenem alles zurückgeworfen wird, was Gold sein könnte oder sollte, führt schließlich zur Konstruktion eines vollständig verspiegelten Raumes: Eine perfekte Politur hat die Grenzen verschluckt, und den Wanderer trifft die Reflexion eines Punktes, den er längst hinter sich glaubte oder der in der zerklüfteten Landschaft gegen den Satz vom Widerspruch näher und ferner liegt, als es jetzt scheint. Am nächsten Kontrollpunkt der Verschränkung biegt der Weg in den Irrgarten ab, während er am fernsten Kontrollpunkt gerade weitergeht. Und die kürzeste Verbindung zwischen nah und fern durch A, B und C macht schließlich jene spekulative Zäsur aus, die über die Schlucht hinweg alles, was glänzt, in Gold verwandelt. Auf unser unabwendbares Risiko ein wenig Luft geschöpft! Daraufhin hat der Wanderer einzuatmen, denn der diagonale Weg führt auch über Umwege weiter, um Mauerreste und verlassene Ställe herum – und die halbwegs erzwungene Atempause bei einer schwierigen Rechnung kann nur als Gleichnis für ein Stelldichein dienen, das Schutz bietet vor einem Platzregen im Sonnenlicht.


atem

Auf dem Umkehrpunkt des Weges, der querfeldein von der Metapause zur Atempause hinter eine Wand führt, die aus physikalischen Gründen unhintergehbar sein sollte, verlässt der Wanderer nach kurzer Zeit wieder sein Stelldichein, um auszuatmen. Seine Frage lautet: Wie konnte es aus heiterem Himmel regnen? Als er wieder ins Freie tritt, ist bis zum Horizont nicht der Schatten einer Wolke zu erkennen. Noch bevor der Wanderer ausatmet und eine Antwort auf den ersten Wegweiser findet, steht er vor einem zweiten Wegweiser, auf dem zu lesen ist: »Umschwung abgewendet. Ausatmen!« Zu spät oder gerade nicht zu spät: Wo wirkt die Verbindung, die den Plan des Wanderers ersetzt, und wo ist sie abgeschnitten, um ihn auf einem anderen Weg nach Rhodos zu führen? Springe jetzt! Frage nicht! Halte dich an die Anweisungen! So spricht der willkommene Widersacher, dessen Spaten sich auf dem nackten Fels der Spiegelungen verbiegt, damit endlich ein verabredetes Schweigen gebrochen sei.
      Die Schilder könnten z. B. Fallen von Grabräubern sein, die ihre Konkurrenz irreführen wollten. Noch aber gelten für die Eingeweihten die gesetzlichen Einschränkungen der Nichteingeweihten – bis endlich das Gold für das gehalten wird, was sein Glanz verspricht. Die Hüter einer stabilen Währung dulden keine Piraterie und keine Buchung ohne Erdung: Kein Rucksack reißt zufällig! Das im Idealfall beständige Wetter und die Fallstricklogik windiger Transaktionen garantieren ein »Maß aller Dinge«, das nur die Hoffnung der verlorenen Seelen auf die kürzeste Verbindung von A nach B auf begründete Weise vergeblich macht: Lediglich die Schicksalsergebenheit eines Narren kann den Anspruch des Hoffenden auf den letzten Posten im Goldkreislauf schmälern.
       Irgendwo dazwischen, und das muss nicht C sein, ist die Zeit des Ausatmens z. B. jetzt: Nicht nur da, wo der Hund begraben liegt, könnten die Spuren enden, die für die Fortsetzung des Weges ohne Rauschen von Bedeutung sind. Wo der Wanderer sie tatsächlich verwischen will, um seine Verfolger abzuhängen, muss er möglicherweise mehr geben, als er hat, und das betrifft nicht nur seine Luft als das Mittel seiner Selbsterhaltung, sondern auch sein Gold – in jedem Fall aber seine Wittgenstein’sche Leiter, die nach ihm niemand mehr benutzen soll. Aus dem Missverhältnis entspringt das Unbehagen, welches das Wetter, egal wie es den Voraussagen trotzt, zweitrangig macht. Denn sowenig, wie ihn der Regen auf der Flucht überraschen konnte, so trocken sind gegen die physikalischen Gesetze seine Kleider, wenn er wieder ins Freie tritt. Fernes Gebell tönt in der Einöde. Das Stelldichein ist für ihn nur noch minimaler Erdkreis und anachronistische Urkunde, aber nicht mehr Vorsprung und Leiter. Bereits in der Pause zwischen »Meta« und »Atem« ahnt der Wanderer, dass die Wegweiser in einer Welt der halben Wahrheiten stehen. Die ganze Wahrheit muss er sich über den Verlust oder Gewinn des Anteils erarbeiten, den ihm die Gesetze des Werterhalts zwischen den monadischen Einheiten gewähren. Monadisch eingeschlossen ist somit seine Wahrnehmung, seine verregnete Erinnerung, so wie alles, was ihn daran hindern könnte, eins zu werden mit einer verschworenen Außenwelt: ohne eine neue Ausrede erfinden zu müssen, die wieder einen neuen Umweg und Umschwung verkündet, der wiederum C heimlich enthält usw. Ein Blick auf den spatenverbiegenden Boden reicht aus, um festzustellen, dass in der Zeit des Ausatmens bei launischen Wetterverhältnissen das Gold sich in Blei verwandelt hat. Die Gurte des Rucksacks sind gerissen, der Reichtum ist dahin, und nur ein Kaninchenzüchter mit schwarzem Zylinder steht allein im Feld. Der heikle Zusammenhang zwischen falschem Regen, falscher Heiterkeit, falschem Währungssystem und falschen Versprechungen muss im falschen und richtigen Leben den Schlüssel enthalten für eine gewisse Ernüchterung.


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Während der Wanderer auf der weiten Flur der Zäsuren mit der Deutung einer Wandlung beschäftigt ist, für die es keine physikalischen Gründe gibt, wächst die schmerzliche Einsicht, dass diese Deutung an den Resultaten der Wandlung nichts verändern kann. Nachdem das Gold einmal zu Blei geworden ist, scheint es keinen Weg zurück mehr zu geben. Was verloren ist, hat auch kein anderer mehr gewonnen. Man kann nur versuchen, den Verlust so schnell wie möglich zu vergessen, und sich darüber freuen, dass es jetzt ohne das schwere Gepäck und ohne Verfolger weitergeht. Kein A, kein B, kein C, sagt sich der Wanderer, der jetzt zum Zeichen seiner neuen Freiheit – Lustprinzip statt Verlustprinzip – mit verschlossenen Augen durch die Disteln steigt. Doch ehe er sich versieht, trifft er auf ein drittes Schild, auf dem geschrieben steht: »Glück im Unglück. Atem anhalten!« Wer durchschaut das Spiel? Endlich öffnet sich die erwartete Falle, die keinen Verfolger mehr verrät, denn: Das Spiel beruht darauf, dass nicht von Anfang an alles auf dem Tisch liegt – bei jeder Währung und bei jedem Wetter.
Der Meister des »nichtenden Nichts« aber hat zu seinem Unglück statt Glück die Falle erkannt und ist dennoch in ihr heimisch geworden, nachdem sein antiplatonischer Abschied von der historischen Wirklichkeit, in der er dem Meister des Spiegels keinen Rat mehr zu dieser Wirklichkeit geben mochte, aus guten Gründen unwiderruflich geworden ist. Während herrenlose Hunde auf den Klippen heulen und während verschwiegene Worte Blei gegen Gold im Mund aufwiegen, versuchen die Erben dem »Nichts« auf der anderen Seite des Weges zwischen A, B und C nachzuhorchen, um eine Antwort auf die unterschlagene Frage zu finden, doch sie hören: nichts! Nichts als den eigenen angehaltenen Atem. Nichts als die Einbildung einer Bewegung unter schwarzen Tüchern. Und dann überall Kaninchen aus Zauberhand! Die Welt der Wandlungen ist Vergangenheit, und die Kiste der Reflexionen ist verschlossen. Auch Blei kann jetzt einen Wert darstellen. Die Eingeschlossenen aber, die vom Weg abkamen, haben das beliebige Ziel jetzt schon erreicht, und es spielt keine Rolle, ob der nächste Schritt sehenden oder geschlossenen Auges geschieht. Diagonal oder gerade durch. Wörtlich oder verschwiegen. Mit oder ohne Leiter. Gold verbleit oder Blei vergoldet. Unmerklich ist damit die Grenze überschritten zwischen dem Ein und Aus des Atems, der das problematische Geschehen am Leben erhält: Bereits zwischen dem Ein und Aus wird der Atem angehalten, in einem sich stets verkürzenden Augenblick, der bei knapper werdender Luft »Gegenwart« heißt. Denn die Umkehr auf ein und demselben Punkt als dem Gleichheitszeichen eines Wort- und Sprachspiels ist die Forderung, die sich aus der erkämpften Freiheit ergibt – und zwar nicht erst seit dem Meister der »ewigen Wiederkehr«. Was also soll es heißen, wenn der fehlende Schatten einer Wolke am heiteren Himmel auffällt? Weder vom Glück noch vom Unglück ist die Rede, nicht einmal vom einen im anderen, denn der Atem dahinter, der das System ausmacht – das bei fröhlicher Wissenschaft nur eine Schleife sei –, hält an, bis er vom System unabhängig erscheint. Die Falle schnappt zu, und es verblassen die Wegweiser vor der Frage, ob es bei Regen im Sonnenschein einen Fehler im System gibt. Dann öffnet sich die Falle wieder, und jeder weiß, warum er nicht weiß, warum. Den Wanderer aber muss es nicht kümmern, denn es weht bereits ein neuer Wind, ein reines Lüftchen im Glas, das die Stimmen einfängt und ordnet, die gerade noch wild durcheinandergingen.



Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 273

[1]Nach dem gleichnamigen Titel der Antrittsvorlesung von Martin Heidegger am 24. Juli 1929 an der Universität Freiburg i. Br. (Martin Heidegger, »Wegmarken«, Frankfurt a.M.: Klostermann 1978, S. 103–121). Die These Heideggers von der Grundlegung allen metaphysischen Fragens in der »Frage nach dem Nichts« (S. 119) erfährt eine gewaltsame Verlängerung in den verweigerten Ratschlägen des Philosophen im Spiegel-Gespräch mit Rudolf Augstein (»Nur noch ein Gott kann uns retten«, »Der Spiegel«, 31. Mai 1976, S. 193–219. Das Gespräch fand statt am 23. September 1966 in Todtnauberg).
      Heideggers historisch bedingtes Schweigen im Spiegel-Gespräch wird – auf philosophisch und politisch unkorrekte Weise – in Beziehung gesetzt zu Wittgensteins ahistorischem Schweigegebot, wie er es im »Tractatus« aussprach. Die beiden konträren Positionen wechseln sich in der Rolle des »Wanderers« ab, die Nietzsche ab seiner »Zarathustra«-Schrift annahm (als »Der Wanderer und sein Schatten«). Auf Teilen des Weges wandert Heidegger (der Wegweiser, das Stelldichein, die Urkunde, die Zeichen des Nichts), auf anderen Teilen wandert Wittgenstein (der Spaten, die Leiter, die Irritation im Freien, das Nichts der Zeichen), und auf allen Teilen wandert Nietzsche, aus dessen Schatten beide Möglichkeiten des Schweigens nicht herausfinden. Das Motiv des Atems, ob aus dem Nichts des metaphysischen Grundes geschöpft oder aus dem wirren All der postmetaphysischen Möglichkeiten, verbindet die drei Figuren auf einem Weg mit Hindernissen, die als Wegweiser zu »Meta«, zu »Atem« und zu »Metatem« als deren unrein erschlichene Synthese ohne Ausweg getarnt sind: mit existenziellen, ökonomischen und ideellen Auswirkungen.