Zu früh zu spät
»... mehr Absolutismus wagen.«
Das folgende Gespräch fand im Gefängnis statt. Aufgrund eines Justizirrtums wurde MK 25 Jahre lang in der Einzelzelle eines Hochsicherheitstrakts festgehalten – bis heute sind die Umstände dieses Irrtums nicht restlos aufgeklärt. In dieser Zeit erhielt der Gefangene immer wieder Besuch von einer nicht näher bekannten Person X.
x—In deiner Arbeit scheinen sehr gegensätzliche Elemente aufeinander zu wirken: Futuristisches trifft auf Apokalyptisches, Filigranes auf Martialisches, surreal Isoliertes auf historisch Verwobenes. Und zwischen allem taucht immer wieder ein starker Bezug zur Vor- und Frühgeschichte der Moderne auf. In welchem Verhältnis steht deine Arbeit zu diesem Epochenbegriff bzw. zu dem, was heute bei dessen Zersplitterung in unzählige »Nachmodernen« noch übrig ist?
mk—In Abwandlung eines bekannt gewordenen Zitats – »Die Moderne ist unsere Antike« – des vorletzten Documenta-Machers Roger M. Buergel würde ich sagen: Die Moderne ist nicht unsere Antike, sondern unser 19. Jahrhundert. So ist es erklärlich, dass die diagnostizierten Erschöpfungserscheinungen der letzten Jahrzehnte so häufig an das erinnern, was gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal thematisiert wurde: Salonkultur gegen vermeintlich aufbegehrende Randkultur, ein angeblicher Verfall von Werten und Verbindlichkeiten bei gleichzeitiger Verbürgerlichung, Pluralisierung, Anonymisierung und Ausdifferenzierung weiter Teile einer sich selbst als »dekadent« und säkular empfindenden Gesellschaft. Der Schatten des Nihilismus, in dem sich alle genannten Erscheinungen einer kulturellen Verbürgerlichung befinden, ist seit dem frühen 19. Jahrhundert bis heute immer nur größer geworden. Entscheidend hierbei ist, dass der gesamte, den Bedingungen dieses 19. Jahrhunderts entstammende Ideenzusammenhang der Verbürgerlichung seine restlose Realisierung eben in der sogenannten Moderne fand, inklusive aller zugehörigen Umkehreffekte des ursprünglich Intendierten. Die zunehmend hektischen Veränderungen am Erscheinungsbild zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachten nicht eine Umwälzung der Vorgaben, wie es der selbst fabrizierte Mythos will, sondern deren weitere Forcierung. Damit verstärkte sich nochmals der nihilistische bis existenzielle Grundton, der spätestens seit der Epoche der Romantik und der Kulturkritik – als eines »realistisch« gewordenen Idealismus – das 19. Jahrhundert prägte. Und gerade die dann in der Moderne üblich gewordene Rede von Neubeginn, Tabula rasa, Revolution etc. sind Kennzeichen einer sich fortwährend zuspitzenden Endzeitstimmung. Endzeitstimmung und permanente Gründerzeit, das gehört zusammen. Diese Kombination hält nun schon seit bald 200 Jahren die Welt in Atem. »Die Moderne ist unser 19. Jahrhundert« heißt deshalb auch: Vergangenes kann nicht vergehen, Kunstreligion steht gegen Prosa, Readymade-Alchemie steht gegen berechenbare Superzahl – und durch alle Debatten zieht sich ein Abwehrkampf gegen die urmoderne Verdammung zur Sentimentalität.
x—In welcher Weise setzt du diesen Rekurs auf eine – nach deiner Meinung – missverständlich fortschreitende Moderne fort, und wo setzt du dieser Geschichte, die nicht vergehen kann, etwas entgegen? Und wäre diese Entgegensetzung dann wiederum nur der Versuch eines neuerlichen Neubeginns als ein neuerliches Merkmal einer Endzeit in der Endlosschleife? (Im Hintergrund sind Trompetenübungen eines Gefängniswärters zu hören, dazwischen Wolfsgeheul.)
mk—Ich breche neu das Alte ab und beginne alt etwas Neues. Das ist das Einzige, was man tun kann. Es ist nämlich nicht möglich, ernsthaft in Distanz zu dem Umfeld zu stehen, in dem man sich aufhält. Und wenn man es dennoch versucht, kommt dieses Umfeld erst recht zum Vorschein, wenn auch vielleicht nur implizit. In dieser Gegenwart kommen sämtliche unterdrückten Effekte des soeben geschilderten nihilistischen Schattens zur Geltung, der das kulturelle Selbstverständnis seit 200 Jahren zunehmend auf die Probe stellt. Der Faden kann jeden Moment reißen, während der Tanz auf dem Vulkan noch weitergeht – diese Vision ist meine moderne Kontinuität. Aber ich könnte auch versuchen, mich durch einen spekulativen Sprung schon jetzt in das Jenseits des angesagten Risses zu versetzen – das wäre mein Ansatz eines radikalen Neuanfangs, der mit dem Mainstream-Katechismus der letzten 50 Jahre bricht. Natürlich muss man sich hierbei seiner paradoxen Ausgangslage bewusst bleiben. Jenseits des Risses ist die Bewegungsform zunächst einmal diejenige des freien Falls. Doch die Schwerelosigkeit findet in einem komprimierten metaphysischen Dämmerschein statt, in dem sich Anfang und Ende der möglichen Geschichte berühren und in der sich kein Lüftchen regt, das nicht Tonnen wiegt. Jedes Moment einer noch so absurden Fragmentierung erscheint hier in einer gleichsam absolut übergeordneten, systematisch chaotischen Lichtführung. Das gesamte Universum ist in dieser höhlengleichnishaften Engführung auf dem Gipfelpunkt seiner Verspiegelung zu einem interpunktionslosen, vollkommen stimmigen und vollkommen unleserlichen Bildtext oder Textbild geworden ...
x—? Erzähl weiter!
mk—Das würde ich gerne, doch ich fürchte, dass ich auf dieser spätmodern-nihilistisch verschatteten Spur einem Pathos nachgeben würde, das die protestantische Seite des heutigen Kulturbetriebs zu sehr verschreckt. Gerade in einer Phase, in der sich das gesamte System in seinen Grundfesten infrage gestellt sieht, ist die Nervosität gegenüber jeder nicht orthodoxen Redeweise besonders groß: Alles, was gegen die ewige Leier vom Betrachter zu verstoßen scheint, der »ein Teil des Kunstwerks« sein will oder soll, gilt hier als verdächtig. – Mir geht es eher um ein Modell, das auf einer maximalen Distanz zum Betrachter aufbaut, auf einer nur noch labyrinthisch möglichen Begegnung der Parteien, in ursprünglich südlicher, aber kalt und dünn gewordener Luft – kurz, zur Eisvogelbrutzeit in den windstillen Tagen der Wintersonnenwende. Die Bildfülle, die hiermit einhergeht, wird stets ein Dorn im Auge eifriger Protestanten bleiben. Ihnen ist das Phänomen »Bild« immer ein gefährliches Relikt einer nicht ganz niedergekämpften, dem Irdischen zugewandten heidnisch-pantheistischen Kultur, und sie halten alles, was wir zuvor über den mythisch angedunkelten Schatten gesagt haben, für Teufelszeug aus bildmagischer Zeit. Jede Bezugnahme in diese Richtung sei eine Gefährdung des einzig selig machenden Lichtes der Aufklärung, das doch »eigentlich« den nihilistischen Abgründen den Garaus machen wollte, aus denen die Dämonen einer vermeintlich antimodernen Moderne immer wieder von Neuem aufsteigen.
x—Die Dämonen beginnen auch meine Wenigkeit gerade zusehends zu überzeugen! Hat Kunst auf deiner Spur also eher mit dem »Goldenen Kalb« zu tun und weniger mit dem monotheistischen Moralkodex, der das »Goldene Kalb« immer nur verbannen wollte (vielleicht ohne dessen Bedeutung verstanden zu haben)?
mk—Genau! So wie die heidnisch-fantastische Weltzuwendung immer noch den
Kern dessen ausmacht, was bis heute dem Begriff »Kunst« seine rational nicht entzifferbare
Qualität verleiht, so bleibt »Kunst« an die Vorstellung des »Goldenen Kalbes« gebunden. Kunst
ist das »Goldene Kalb«. Und wer vor dieser Gleichung aus moralischen Gründen Angst hat, der
soll sich besser mit etwas anderem beschäftigen. Der monotheistische Gesetzeswahn, Ausgrenzungsrigorismus
und Weltverneinungspurismus war und ist der Urfeind des Bildes, von der
jüdischen Gottesabstraktion über die christliche Bilderstürmerei bis zur generellen Bildphobie
im Islam. (Im römischen Katholizismus existierte eine gewisse, wenn auch für mich nicht weiter
wirksame kunstfreundliche Ausnahme, aus dem einfachen Grund, dass hier die antike Bildwelt
mit ihren Ritualen einen Überlebensraum gefunden hat – ein damals notwendiger politischer
Kompromiss.) Im sublimierten Umfeld des verbannten mimetischen Bildes konnte sich also
erst der neuzeitliche Begriff »Kunst« entwickeln.
Hätte sich die monotheistische Bildverteufelung überall konsequent durchgesetzt,
dann würde es nach der Zerstörung der antiken Kultur bei uns so bilderlos geblieben sein wie im Orient. Alles, was hingegen Richtung Mimesis und Simulation ging, ist antikes Erbe. Auch
das Digitalfoto von heute hat sich letztlich aus dem Mimesis-Gedanken entwickelt und nicht
aus dem Ornament. Man muss sich die spezielle Wurzel dieser heute weltweiten Anwendung
klarmachen, um auch aktuellere Grabenkämpfe besser zu verstehen.
x—Die Bilderfeinde sind also trotz Institutionalisierung nicht ganz ans Ziel gekommen. Wie aber geht diese Geschichte im säkularen Zeitalter weiter?
mk—Der Riss setzt sich fort, allerdings jetzt übertragen auf den Gegensatz zwischen einem tendenziell bilderfeindlichen und textgläubigen Aufklärungsmoralismus und einer an der wiederentdeckten heidnischen Antike orientierten »kunstreligiösen« Anschauung: In den neuhumanistischen Strömungen seit Winckelmann konnte das »Goldene Kalb« z. T. platonisch gut getarnt in neue, schon modern strukturierte Bereiche vordringen. Insbesondere das geistige Umfeld des sogenannten Dritten Humanismus in Deutschland und das Umfeld des George- Kreises sind hier erwähnenswert. Und last, but not least: Durch bestimmte Ideenkanäle der Romantik, die über Böcklin und de Chirico in den frühen Surrealismus mündeten, wurde die pantheistisch inspirierte, bildmagische und untergründig-mythische Linie im europäischen Film der Nachkriegsära fortgesetzt, bei Buñuel, Pasolini, Fellini, Herzog, Tarkowski etc., bis zuletzt bei Lars von Triers »Antichrist« und »Melancholia«.
x—Du sprichst hier von kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Die Dynamik der letzten 200 Jahre ist aber vor allem auch von technologischen Neuerungen ausgegangen. In welchem Verhältnis stehen deine Überlegungen zu dieser Seite der Entwicklung? (Nirgends läuten Glocken. Stattdessen ertönt ein Fernseher, vielleicht mit der Übertragung eines Boxkampfes. Nur kurz, dann schaltet die Leitung den Strom ab.)
mk—Die Antwort auf diese wichtige Frage sollten wir unterteilen. Wenn ich »Jetzt!« sage, musst du mich unterbrechen! – Verbürgerlichungsendzeit und Nihilismus sind natürlich auch Reflexe dieser rasanten Entwicklung. Dabei gilt allerdings Folgendes: Im »Geistigen« kann man spätestens seit Platon nicht mehr von einem »linear« zu verstehenden Fortschritt sprechen, sondern eher von einer immer neu ansetzenden differenzierenden Kreisbewegung. Hingegen auf der technologischen Seite kann man vom Faustkeil bis zum Laserschneider sehr wohl von einem Fortschritt sprechen, und zwar genau in jenem linear zukunftsgerichteten Sinn, den das Wort insgesamt haben sollte. Je mehr sich aber die technische Pfeilbewegung von der geistigen Kreisbewegung unterscheidet, d. h. mit zunehmender Deutlichkeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts, desto mehr entstehen natürlich Spannungen zwischen den beiden Auffassungsweisen. Vor allem weil die Kreisbewegung angesichts der sichtbaren Erfolge des Pfeils ins Hintertreffen zu geraten glaubt, entsteht hier bald eine Art Torschlusspanik – u. a. äußert sich das eben in der atemlosen Stilabfolge der Avantgarden während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erst im Lauf der 1970er Jahre gerät dieser Reigen bekanntlich ins Stocken, und der Wettlauf scheint zugunsten des technologischen Entwicklungsmodells endgültig verloren. Gleichzeitig, mit dem Ende von Avantgarde und Utopie, kommt dann die Rede von der »Postmoderne« auf – und meine Studienzeit begann. Jetzt!
x—Das kann kein Zufall sein! Was ist nun die Reaktion auf diesen verloren gegangenen Wettlauf? Nur noch Katerstimmung und/oder anything goes? Kann man jetzt alle geistigen und überhaupt kulturellen Regungen vergessen? Sollte man sich nur noch einer wissenschaftlichen, technologischen oder ökonomischen Effizienz hingeben?
mk—Leider und zum Glück ist das Ganze doch schwieriger. Man könnte z. B. angesichts der medialen Veränderungen einfach McLuhan-mäßig nachgeben und im Gefolge bewährter moderner Selbstbezüglichkeitsformeln à la »Die Form ist der Inhalt« nun nach dem Motto »The medium is the message« das Problem elegant zu verschlucken versuchen. Schluck! Doch was eben »message« sein könnte oder sollte, ist doppelbödiger, als es sich in der ersten euphorischen Aufnahme einer neuen Technik oder Codierungsmöglichkeit darstellt. Plötzlich kommen nämlich unvorhergesehene Redundanzen ins Spiel: Das Mitzuteilende stellt sich z. B. nach einigen logischen und hermeneutischen Kürzungen als etwas dar, was auch schon 2000 Jahre vorher ein Anliegen war. Oder das Mitzuteilende bleibt trotz neuer Technik so unsagbar wie vieles, was man längst als Phänomen oder Irrtum für überwunden hielt. Was also tun? Dem bocksfüßigen und labyrinthogenen Conditio-sine-qua-non-Dämon, der immer an der unübersichtlichsten Stelle »dazwischen« sitzt, einen neuen Namen geben? Oder einfach mal aufhören mit den dauernden tautologischen Umbenennungen?
x—Sollte ich immer noch »Jetzt!« sagen, um dich zu unterbrechen?
mk—Das »Jetzt!«-Fenster ist wieder geschlossen – die Frage hättest du dir sparen können. Also: Die große Auflösung, Entsubjektivierung, Entobjektivierung, Entautorisierung etc., welche die poststrukturalistischen Zauberformeln versprachen, um ein endlich allumfassendes unterschiedsloses Einerlei zu erhalten, findet nicht statt! Und die schöne Utopie von »Alles ist Kunst«, »Jeder ist ein Genie«, »Jeder kriegt seine fünf Minuten« und »Alle und alles ist gleich« muss leider einer gegenteiligen Realität weichen: Fast nichts ist Kunst, fast niemand ist ein Genie, die fünf Minuten sind Fake, und Gleichheit gibt es nur unter Ameisen oder Sandkörnern (und auch hier wohl nur bei oberflächlicher Betrachtung!). Der von Foucault für unmöglich erklärte Autor ist eben nicht unmöglich, sondern nur ein sehr selten anzutreffendes Individuum. Und das Medium bleibt eben doch nur Medium, während die »message« aus einem ganz anderen Bereich hinzukommen muss. Sie ist Teil einer gleichsam zeitlos gültigen surrealen Gleichung. Resultat einer äußerst unwahrscheinlichen Begegnung.
x—Darf ich ... (In weiter Ferne Meeresrauschen, vielleicht aber auch nur eine Störung des Aufnahmegeräts.)
mk—Nein. Der technologische Fortschritt erleichtert uns zwar das Reisen, den Abwasch
und die Kommunikation, doch er nimmt uns leider die Arbeit im Kreis nicht ab. Auf
die können wir aber erst verzichten, wenn wir uns tatsächlich in Ameisen verwandelt haben
– um die Kreisbewegung dann erst recht, aber bewusstlos fortzusetzen. Der Mensch und jede
denkbare aus ihm hervorgehende intelligente Einheit ist ein monadisches Atom. Da hilft kein
Facebook, kein TV-Karaoke und kein Ganztagsheadset, im Gegenteil: Das Einzige, was uns mit
dieser gemeinsam vermuteten Außenwelt verbindet, sind Klopfgeräusche. Und unsere Fantasie,
aus diesen Klopfgeräuschen irgendetwas zu machen ...
Die ganze Rede von der großen Vernetzung, die uns endlich aus der einsamen Zelle
befreien könnte, ist Augenwischerei. Die Kollegen in den Höhlen von Lascaux, die gerade
erst die Annehmlichkeiten des Feuers entdeckt hatten, besaßen mehr Gemeinschaftssinn und
soziale Instinkte als wir heute bei aller medialen Verfügbarkeit. Die Mediatisierung ist somit
in erster Linie ein Katalysator der Monadisierung, und sie hermetisiert zusätzlich die einsame
Zellenexistenz jeder einzelnen lauschenden Einheit. Das heißt natürlich nicht, dass es in der
Urzeithöhle besser war. Der technologische Fortschritt soll und wird immer weitergehen –
und der Kreis wird immer vermeintlich stillstehen: bis das gesamte Universum vom Urknall
bis zum entropischen Ausklang erforscht ist und selbst intelligent geworden ist. Doch die
intelligente Einheit, die dann den ersehnten letzten Betrachterstandpunkt einnimmt, wird
immer noch eine Monade sein, in deren absolutem Inneren möglicherweise »nur« ein gigantischer
Simulator sein Werk vollbringt. Doch egal, ich fühle mich auch als Monade wohl. Der
beschworene Funke darüber hinaus ist immer Spekulation. Und hier kommen wir nicht mit Gesellschafts- oder Medientheorien weiter, sondern nur mit Poesie (mit der zugehörigen Bereitschaft
zur Uncoolness!).
x—Das klingt dunkel. Das Zeitalter der Theorie ist vorüber! Doch je dunkler der Hintergrund ist, desto heller kann vielleicht der spekulative Funke leuchten, der für einen Augenblick zwischen den einsamen Klopfern geschlagen wird. Uncool ist manchmal auch hypercool. – Von hier aus ist vielleicht abschließend noch ein Wort zu sagen zu dem Medium Malerei, für das du dich bei deinen transhistorischen Recherchen und monadischen Ausblicken entschieden hast. Welche Neubewertungen sind hier möglich, nachdem der aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts stammende mediale Gattungskrieg (Keilrahmen ist doof etc.) in den letzten Jahren zunehmend zur Farce geworden ist?
mk—Der ganze Unsinn aus dem Zeitalter der Ideologien wird noch lange durch die Szenen geistern. Malerei ist nur etwas für Leute, die sich für Kunst interessieren, und nichts für Leute, die sich nur für das Gerede über Kunst interessieren. Generell lässt sich aber sagen: Je digitaler unsere Welt täglich wird, desto interessanter wird das mit dem alten, analogen Medium Malerei. Es erhält jetzt die Aufgabe, als ein Korrektiv zu fungieren, das die Bildfindung auch innerhalb der Neuen Medien auf ihre Genese und Wirkungsweise hin beleuchten kann. Um die hierfür notwendige Distanzierung zu leisten, bietet das Medium Malerei, das seit über 100 Jahren aus dem »angewandten« Bereich herausgefallen und zum reinen Kunstmittel geworden ist, den – meiner Meinung nach – aktuellsten Code, um den heute allzu selbstverständlichen elektronischen Imaging-Alltag zu unterlaufen. Allerdings geht das nur, wenn man den Anachronismus des Mediums auf die Spitze treibt. Es reicht eben heute nicht mehr aus, einfach nur zeitgenössisch zu sein. In der Gegenwart selbst existiert inzwischen ein Überhang, dessen Wurzeln in längst vergessene Felder zurückreichen. Ohne Kontakt zu diesem geistigen Grundwasserspiegel hält auch an der Oberfläche nichts zusammen.
x—Ich ... (Schlurfende Schritte im Gefängnisflur, Schlüsselklirren, dann wieder Stille.)
mk—Ja, ich weiß, will, soll, darf, darf nicht etc. Es versteht sich von selbst, dass es auf dieser Fährte um ein dezidiert gut gemachtes Bild gehen muss, dessen Fokus, Brennweite und Texthaltigkeit jeden Sozio-Touch, jede Pop-Affinität, jeden Interaktivitätskitsch und jede moralische Versicherung negiert. Wer hier das politisch bzw. proletarisch Korrekte vermisst, der sei erst recht zu dem Abenteuer eingeladen, die gültigen Kontexte und Diskursgarantien so weit zu übergehen, dass selbst dieser merkwürdige Satz Giorgio de Chiricos plötzlich verständlich scheint: »Heute hoffen wir, dass wir mystisch genug sind, um eine Wiederkehr des Klassischen zu bewirken.«1 Natürlich geht das nicht, und natürlich hat er das auch anders gemeint. Aber anders als was? Und warum nur anders? Das Bild, das heute auch solche Fragen aufwirft, erscheint als ein endloser Kommentar zu Böcklins »Toteninsel«, als eine Pittura metafisica 2.0, und es hängt bestenfalls nicht in Galerien und Museen, sondern in Zitadellen. Die metaphysische Frage, um die herum dieses Bild lesbar wird, bildet im Idealfall die Knautschzone der monadischen Zelle ab, die inzwischen in einem riesigen Beschleuniger auf Kollisionskurs mit ihrer vermuteten Nachbarzelle gegangen ist: damit wenigstens für den Augenblick einer vollkommen konstruierten Begegnung eine Ahnung davon entstehen kann, woher denn das enervierende Klopfen kommt.
x—Das klingt einfach zu gut, um es nur verstehen zu wollen. Wenn ich jetzt nicht nur X wäre, würde ich gerne mit dir eine Großfamilie gründen! Wäre das eine Option für dich?
mk—Leider bin ich selbst seit Jahrzehnten mit einem intergalaktischen Geburtsvorgang beschäftigt. Eine Familiengründung hinter Gittern würde mich momentan überfordern. Zuvor sollte noch das mit der Dunklen Materie geklärt werden. – Und erst wenn meine geistige Rotverschiebung auch noch die letzte Krümmung überwunden hat, die mich von dem ersten Anfang trennt, den jede konsequente Zeitreise zum Ziel hat, kann ich guten Gewissens eine Pause machen. Dann bin ich hoffentlich nicht mehr allein.
x—Vielen Dank für dieses Gespräch. Ich werde warten. (Auf einem Wachturm kommt Streit auf, Glas geht zu Bruch, dann bis tief in die Nacht im ganzen Haus Geflüster an den Wänden.)
Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 33
[1] Paolo Baldacci und Wieland Schmied (Hg.), »Die andere Moderne. De Chirico, Savinio«, Ausst.-Kat. Düsseldorf, München. Hatje Cantz Verlag 2001, S. 93.